Das Kamel und die Ratte.

[317] Ein Kamel, das seinem Herrn entlaufen war, wanderte auf einsamen Pfaden und schleppte die Nasenleine auf der Erde nach. Wie es nun langsam dahin ging, hob eine Ratte das Ende der Leine auf, nahm es ins Maul und lief dem riesigen Tiere vorauf, indem sie unaufhörlich dabei dachte: »Was muss ich doch für Kraft besitzen, dass ich ein Kamel führen kann!« Nach kurzer Zeit kamen sie an das Ufer eines Flusses, der den Weg' kreuzte, und hier machte die Ratte halt.

Das Kamel sprach: »Bitte, geh' doch weiter!«

»Nein,« sagte seine Begleiterin, »das Wasser ist zu tief für mich.«

»Nun wohl«, erwiderte das Kamel, »Lass mich die Tiefe an deiner Stelle versuchen.«

Als das Kamel in der Mitte des Stromes angekommen war, blieb es stehen, drehte sich um und rief: »Siehst du, ich hatte Recht, das Wasser ist nur knietief, also komm nur hinein!«

»Ja,« sagte die Ratte, »aber es ist doch ein kleiner Unterschied zwischen deinen Knieen und den meinigen, wie du siehst. Bitte, trage mich hinüber!«[317]

»Gestehe deinen Fehler,« erwiderte das Kamel, »sieh ein, dass du hochmütig gewesen bist, und versprich in Zukunft bescheiden zu sein, dann will ich dich sicher hinüberbringen.«

Die Ratte willigte freudig ein, und so kamen die beiden ans andere Ufer.

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1898, S. 317-318.
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