Der Tiger und der Hase.

[318] In einem Walde lebte einmal ein unbändiger Tiger, der die übrigen Tiere aus reinem Vergnügen zu jagen pflegte, ob ihn der Hunger dazu trieb oder nicht. Die Tiere kamen daher auf Verabredung sämtlich zusammen, um ihre schwierige Lage mit einander zu besprechen.

Der Schakal sprach: »Wir wollen beschliessen, dass täglich einer von uns durchs Los als Opfer für den Tiger ausgewählt werden soll.«

»Einverstanden,« erwiderten die übrigen, »aber erst wollen wir den Tiger aufsuchen und ihm eine Bittschrift überreichen.«

Sie begaben sich nun sämtlich zu des Tigers Höhle und baten ihn demütig, doch von dem unterschiedslosen Morden abzustehen und mit dem Tiere zufrieden zu sein, das Tag für Tag freiwillig zu ihm kommen würde.

»Töte uns arme Burschen nicht,« sprachen sie, »denn stets wird einer von uns kommen und sich verzehren lassen, und auf diese Weise wird dir noch viel Mühe erspart.«

»Nein, nein,« schrie der Tiger, »ich will meine Klauen und Zehen gebrauchen und euch fressen.«

»Aber,« sprachen die Tiere, »Gott hat gesagt, dass wir in der Hoffnung leben sollen.«

»Allerdings,« antwortete der Tiger, »aber er hat auch geboten, dass jeder selbst sein Brot verdienen soll.«

Indessen zuletzt, nach langen Verhandlungen, lies sich der Tiger überreden und gab das feierliche Versprechen das er zu Hause in seiner Höhle bleiben würde. Von[318] da ab kam jeden Tag das vom Lose bestimmte Tier zu der Höhle, um sich fressen zu lassen. Als die Reihe an den Hasen kam, sagte er rund heraus: »Ich gehe nicht, ich will mein Leben behalten.« Vergebens versuchten die übrigen Tiere ihn zu überreden oder zu zwingen. Mittag, des Tigers gewöhnliche Fressenszeit kam heran, es wurde ein, zwei und drei Uhr. Endlich sprang der Hase plötzlich auf, rief: »Jetzt fort,« und machte sich auf den Weg nach der Höhle. Als er sich derselben näherte, sah er, wie der hungrige Tiger wütend die Erde aufriss, und hörte ihn brüllen: »Was ist das für ein lächerlicher Hase, mich warten zu lassen!«

»Ich habe aber eine Entschuldigung,« wandte der Hase ein.

»Was kannst du für eine Entschuldigung haben,« fragte der Tiger?

»Ich war heute gar nicht an der Reihe zu kommen, sondern mein Bruder war daran. Ich bin mager, aber mein Bruder ist dick und fett. Mein Bruder hat sich auch auf den Weg zu deiner Höhle gemacht, aber unterwegs fiel er einem anderen Tiger in die Hände, der ihn fressen wollte und ihn auch wirklich fing und davon schleppte.« Da kam ich hinzu und sagte zu ihm: »Dies Land ist nicht dein Land, sondern es gehört einem anderen Tiger, der dich bestrafen wird.« Darauf erwiderte der fremde Tiger: »Geh' du nur gleich und fordere deinen Tiger heraus, damit wir miteinander kämpfen.« »Darum bin ich hier, Herr, um seine Botschaft auszurichten. Komm und töte uns den Bösewicht.«

Von Wut und Eifersucht erfüllt, sprach der Tiger zum Hasen: »Geh voran!« Und das Paar machte sich auf, den fremden Tiger zu suchen. Während sie dahin trabten, begann der Hase plötzlich unruhig auszusehen und zurückzuschrecken und that, als wollte er sich im Dickicht verbergen. »Was gibt es,« trug der Tiger, »weshalb fürchtest du dich?«

»Ich fürchte mich,« antwortete er »weil die Höhle des anderen Tigers gerade vor uns liegt.«[319]

»Wo? wo?« rief der Tiger, indem er mit suchendem Auge vorwärts schaute, »ich sehe überhaupt keine Höhle.«

»Da ist sie ja,« antwortete der Hase, »beinahe vor deinen Füssen.«

»Ich kann keine Höhle erblicken,« sprach der Tiger, »willst du dich denn gar nicht überreden lassen, heranzukommen und mir die Stelle zu zeigen?«

»Ja,« erwiderte der Hase, »wenn du mich unter dem Arm tragen willst.«

Der Tiger nahm also den schlauen Hasen unter den Arm und folgte seinen Angaben. Plötzlich sah er sich am Rande einer weiten tiefen Schlucht. »Da ist die Höhle, von der ich sprach,« flüsterte der Hase. »Blick hinein, so wirst du den Räuber sehen.«

Der Tiger, der am Rande stand und in das Wasser auf dem Grunde der Schlucht hineinguckte, erblickte darin sein Spiegelbild und das des Hasen, und meinte, dass er seinen Feind sähe, der den fetten Bruder stolz in den Klauen hielte, liess den Hasen fallen, der sich schleunigst davonmachte, und stürzte brüllend in die Tiefe. Nachdem er sich viele Stunden lang im Wasser abgequält hatte, kam er darin um, und so war der Wald seinen Tyrannen los.A1

Fußnoten

A1 Der Hase spielt auch in Afrika vorzugsweise die Rolle unseres Fuchses, vergleiche die Erzählung bei Steere (Suaheli Tales): Simba na Sungura (Der Löwe und der Hase).


Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1898, S. 320.
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