Das Stierschulterblatt.

[363] Ein Stier stand auf dem Caramon-Feld und frass das Gras am Ufer des Terek. Siehe, da liess sich ein Habicht aus der Luft herab, schlug seine Klauen in das Fleich des Stieres und trug ihn davon. Dann setzte er sich auf einen Baum, unter welchem ein Hirt mit der Herde vor den Sonnenstrahlen Schutz gesucht hatte, und begann den Stier zu verspeisen. Das eine Schulterblatt des Stieres fiel vom Baume herab und geriet dem Hirten ins Auge. Am Abend kommt der Hirt nach hause und spricht zur Mutter: »Mir ist etwas ins Auge geraten, Mütterchen, sieh einmal nach!« Die Mutter ging hin, holte eine Schaufel herbei, reinigte damit das Auge und warf das Schulterblatt heraus. Später[363] bildete sich auf diesem Schulterblatt eine grüne Wiese und darnach entstand ein ganzer Aul darauf. Da kam ein Fuchs herbei, fasste das Schulterblatt, warf es auf die eine und die andere Seite, und beunruhigte dadurch den Aul. Die Bewohner des Auls verwunderten sich und sagten: »Was soll dieser Überfall?« Und in einer Nacht verfolgten sie den Fuchs und töteten ihn. Von der einen Seite konnten sie dem Fuchs das Fell abziehen, aber sie konnten ihn nicht auf die andere Seite umwenden, so dass sie dort das Fell nicht nehmen konnten. Am frühen Morgen kam des Weges daher eine junge Neuvermählte, stiess mit dem Fuss an den daliegenden toten Fuchs und wendete ihn dabei um. Sie fasste den Fuchs beim Schwanz, riss das Fell ab und rief: »Das giebt einen Besatz zur Mütze meiner Buben!« Übrigens – das Fell reichte nicht einmal hin, um die halbe Mütze zu bedecken!

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1898, S. 363-364.
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