IV
Die braven Kinder.1

[183] Es war einmal ein Mann und eine Frau. Die Frau sprach zum Manne: »Geh, erzürne heute deine Eltern, und auch ich werde meine Eltern erzürnen. Dann will ich abends einen feinen Reis mit Fleisch kochen, den wollen wir essen, und weder meine Eltern sollen herkommen, noch deine Eltern.« »Wie sollen wir das aber machen?« fragte er. »Geh zu deinen Eltern«, sagte sie, »und sage: ›Gebet mir euren Brunnen, wir wollen darin Weizen waschen.‹ Und ich will zu meinen Eltern gehen und sagen: ›Gebet mir euer Dach, wir wollen darauf Weizen ausbreiten‹.« Nun ging der Mann zu seinen Eltern und sagte zu ihnen: »Gebet mir euren Brunnen, wir wollen darin ein wenig Weizen waschen.« »Wie sollen wir dir den Brunnen geben?« fragten ihn die Eltern, »und wie willst du ihn hintragen? Bringe vielmehr den Weizen hierher und wasche ihn hier.« »Ich weiss, was für wunderliche Leute ihr seid«, rief er aus, »aber auch schlechte Menschen seid ihr! Von nun ab gehet auch uns um nichts an und kommet überhaupt nicht zu uns.« So überwarf er sich denn mit den Eltern, und dann ging er weg.[183]

Auch die Frau ging zu ihren Eltern und sagte: »Gebet mir euer Dach, wir möchten darauf unsern Weizen ausbreiten.« »Wie soll das Dach fortgetragen werden?« fragten sie. »Geh, Tochter! bring euren Weizen hierher und breitet ihn auf dem Dache aus.« »Ich weiss, wie wunderlich ihr seid, und was für Hände«, rief sie. »Um was wir euch auch angehen mögen, ihr sagt immer: ›Wir geben es nicht.‹ Auch ihr dürft nun zu uns nicht mehr kommen, um uns um etwas zu bitten. Wann ihr auch zu uns kommen möget, ich zerbreche euch die Beine.« So brachte sie es denn dazu, dass ihre Eltern aufgebracht waren.

Nun kam sie nach Hause, kochte einen feinen Reis, that ihn in ein Gefäss, und sie und ihr Mann sollten ihn essen. Da sagte sie aber: »Wer zuerst spricht, der bringt einen Trunk Wasser.« Sie setzten das Gefäss mit dem Abendessen in die Mitte, und sie setzten sich hin: der eine auf die eine und der andere auf die andere Seite, und das Abendessen stand in der Mitte. Sie sahen einander an bis zur Schlafenszeit, und das Abendbrot stand noch immer in der Mitte. Es wurde nahe an Mitternacht, und das Licht brannte noch. Da kamen Soldaten, die sahen ein Licht brennen und einen Mann und eine Frau dasitzen und einander ansehen und ein Abendessen in der Mitte. Da sagten sie: »Lasset uns sehen, was mit den Leuten los ist.« Sie traten ein und redeten sie an, aber sie antworten nicht. Da schlugen sie sie – sie antworten nicht. Nun setzten sich die Soldaten hin, assen das Gericht auf, fesselten dann den Mann, schleppten ihn nach dem Regierungsgebäude und hielten ihn bis Tagesanbruch eingesperrt. Als es Tag war, brachten sie ihn vor den Pascha. Da staunten sie, dass er auf ihre Fragen keine Antwort gab und überhaupt nicht sprach. »Schlaget ihn tüchtig«, sagten sie, »wir wollen sehen, was das zu bedeuten hat, dass er nicht spricht.«

Als der Tag angebrochen war, sagte die Frau: »Ich will hingehen und sehen, was aus meinem Manne geworden[184] ist.« Als sie im Regierungsgebäude ankam, fand sie sie gerade dabei, wie sie ihn prügelten. Da fragte sie: »Warum schlaget ihr ihn, und was ist sein Vergehen?« Obwohl sie ihn schlugen, rief er doch, als er seine Frau sprechen hörte: »Bring einen Trank, du hast zuerst gesprochen!« »Verwüstet werde dein und deines Vaters Haus«, sagte sie, »die ganze Nacht hielten sie dich eingesperrt, und jetzt bist du beinahe zu Tode geprügelt worden, und du bleibst noch immer bei deinem früheren Verstande!« Nun erfuhr der Gouverneur,2 wie es mit ihnen stand, und liess ihn nach Hause gehen, nachdem die Leute über seinen Verstand gelacht hatten.

1

Im Text: »Geschichte eines Mannes und einer Frau«.

2

Für ḫukmâ hat C slḥâkim. Da dieses Wort hier gewöhnlich nur mit pâšâ abwechselt, übersetze ich es mit »Gouverneur«.

Quelle:
Lidzbarski, Mark (Hg.): Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1896, S. 183-185.
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