Versteinerungen und Zauberschlaf.

[5] Aus den Volkssagen ist es bekannt, dass der Zauberschlaf oder die Versteinerung vom verderblichen Stiche eines spitzigen Domes, einer Nadel oder Spindel herrührt, die eine zauberkundige Spinnerin einer Königstochter darreicht.

Bei den Deutschen waren solche zauberkundige Spinnerinnen die Walküren und Nornen; bei den Slaven die Mittäglerinnen, welche die Arbeitenden gern zur Mittagszeit fragen, wie der Flachs zubereitet und gesponnen wird. In den epischen Sagen der Armenier treten[5] Hexen auf, die sogenannten Kawtaren (was persisch »Hyäne« bedeutet), die den Königssohn oder die Königstochter durch ihren Zauberspruch in einen langen Schlummer versenken. – In einem armenischen Märchen ruft ein schöner Königssohn den Zorn der Hexe dadurch wach, dass er ihr nicht die geziemende Achtung bezeigt. Die erzürnte Hexe sticht den Königssohn mit einem spitzigen Dorne und augenblicklich schlummert er ein.2 Vermittelst ihres Zauberteppiches bringt sie ihn in eine wilde, öde Gegend und sperrt ihn in ein Schloss ein, das weder Thüren noch Fenster hat. Der König schickt nach allen Richtungen Kundschafter aus, um seinen Sohn zu suchen, aber vergeblich. Alle meinen, der wackere Bursche wäre im Kampfe mit Helden oder wilden Tieren umgekommen. Damit geben sie sich zufrieden. Nur eine bildschöne Jungfrau, die Braut des Königssohnes, vermag sich mit diesem Gedanken nicht zu befreunden. Sie verlässt heimlich ihr väterliches Haus und macht sich auf, den Geliebten zu suchen. Sie irrt lange umher. Endlich kommt sie an ein hohes Schloss, das zu ihrem Erstaunen weder Thüren noch Fenster hat. Vom weiten Wege ermüdet, lehnt sie[6] sich an die Mauer, um auszuruhen, aber plötzlich öffnet sich diese an derselben Stelle und sie sieht sich in den Hof eines grossen Schlosses versetzt. Die Schöne betritt die Gemächer in der Meinung, dort jemand zu finden, aber sie sieht niemand. Sie durchstreift alle Gemächer, ohne jemand zu finden. Doch da öffnet sie die Thür eines kleinen Zimmers und was sieht sie! Ihr Bräutigam, der Königssohn, liegt angekleidet im Bette und schläft. Ausser sich vor Freude stürzt sie sich auf ihn und weckt ihn, aber er rührt sich nicht. Sie ruft ihn beim Namen, bittet ihn aufzuwachen, ringt die Hände in Verzweiflung, aber der Königssohn erwacht nicht. Da fängt sie an bitter zu weinen, eine Thräne fällt auf die rechte Wange des Königssohnes und er lebt auf. Er erhebt sich und wie von einem schweren Schlafe erwacht sagt er: »Ach, wie lange ich geschlafen habe!«

In einem anderen armenischen Märchen ist die Rede von einem Mohren, der die goldene Zaubernachtigall besitzt und mit seinem Zauberstabe alle Helden, die ihm den Vogel entreissen wollen, in Steine verwandelt. Er versetzt nur einen Hieb mit dem Stabe und der Mensch wird zum Steine. Auf diese Weise sammelt sich eine Menge versteinerter Helden an. Nur dem jüngsten Königssohne, dessen zwei ältere[7] Brüder schon umgekommen sind, gelingt es noch früh genug, dem schwarzen Riesen den Stab zu entreissen und, nachdem er ihn selbst in einen Stein verwandelt, alle versteinerten Helden ins Leben zurück zu rufen.

Die Mär von der Versteinerung und dem Zauberschlafe existiert bekanntlich auch bei anderen Völkern.3 Die Russen besitzen eine ganze Reihe solcher Märchen, die reich an interessanten Einzelheiten sind. Nicht weniger interessant ist das bei Athanassiew angeführte Horustansche Märchen, das auch mit dem obigen viel Ähnlichkeit hat. – Durch ihre Schönheit erregt eine Königstochter die Eifersucht einer bösen Hexe. Diese kommt auf die Hochzeit der Königstochter in deren Schloss, wartet hier einen günstigen Augenblick ab und berührt sie mit ihrem Zauberstabe, wodurch diese in einen Stein verwandelt wird. Nach vielen Jahren kommt ein junger König in dieses Schloss, er erblickt die versteinerte Königstochter, verliebt sich in sie und küsst sie auf den Mund. Sein Kuss ruft sie ins Leben zurück. Ein ähnliches Märchen (das Dornröschen) haben die Deutschen und auch die romanischen Völker.[8] Interessant ist die italienische Abfassung des Märchens von der »schlafenden Königstochter« (Talia) und die französische Version »La belle au bois dormant« bei Perrault.

In den Märchen späterer Abfassung schwindet der mythische Charakter der Versteinerung und diese nimmt ein legendenartiges Gepräge an. Ein paar solcher Legenden will ich hier anführen.

Am Wansee, unweit der Stadt Wan, befindet sich der Berg Agirpa. Am Fusse dieses Berges stehen grosse Steine, die fast einer Gruppe menschlicher Gestalten ähneln und von den Bewohnern der Umgegend »der Bräutigam und die Braut« genannt werden. Aber da es solcher vereinzelter Steine hier viele giebt, so hält man sie für »Gäste« zum Unterschiede von den zwei grossen einander gegenüber stehenden Felsblöcken, dem eigentlichen »Brautpaare«. Unter ihnen steht noch ein grosser Stein mit abgerundeter Spitze, und das ist der »Pfaffe«. Die Überlieferung erzählt, dass sich ein Paar Brautleute ohne Erlaubnis der Eltern trauen liessen und dem religiösen Gebrauche zuwider vor Sonnenaufgang die Kirche verliessen. Dafür verfluchten sie die Eltern und Gott verwandelte nicht nur die Brautleute, sondern auch den Geistlichen und alle Gäste, die[9] sie zur Trauung begleitet hatten, in Steine. – Auch wird erzählt, dass ein sich in nördlicher Richtung von Wan befindender Erdhaufen (»Schechtsch« genannt) nichts anderes sei, als Fuhren mit in Erde verwandeltem Getreide. Der Eigentümer dieser Fuhren war geizig und habgierig und unterstützte nicht die Armen. Dafür zürnte ihm Gott und verwandelte all sein Getreide in Erde, ihn selbst aber, seine Wagen und Büffel in Steine.

Die sittliche Erklärung der Versteinerung, wie die Gott zugeschriebene Versteinerung unfolgsamer Kinder und habgieriger Bauern gehört ohne Zweifel späteren Zeiten an und ist unter dem Einflüsse christlicher Ideen entstanden, während das Heidentum diese Erscheinung durch Ursachen erklärt, die von einer ganz anderen Weltanschauung ausgehen.

Ich gehe nun zu den Sagen von den Zauberschlangen oder Drachen über. Sie zeichnen sich durch ein mythisches Gepräge aus und haben viel Ähnlichkeit mit zahlreichen slavischen Märchen.

2

Vergl. »Ungarische Volksmärchen«, Seite 43–46.

3

Vergl. »Deutsche Volksmärchen« von Haltrich, S. 143 bis 148. Westslow, Märchenschatz, S. 134–135. Auch in »Tausend und eine Nacht« ist es zu finden.

Quelle:
Chalatianz, Grikor: Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1887, S. V5-X10.
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