[194] 65. Der Geisterseher

Es war einmal ein Mann, der mit einigen neugierigen Freunden zusammen Klopfgeister rief. Eines Tages hatte sich ein berühmter Doktor aus dem Mittelalter eingestellt. Aber die Reden, die er führte, waren roh und ungebildet, und seine Gedichte reimten sich nicht recht. Er war auch immer gleich zur Stelle, wenn man ihn rief.

Einmal, als sie mitten im Fragen und Antworten waren, gab er den Spruch: »Ich will gehen.« Sie fragten wohin. Da hieß es: »Die Familie Tsiän hat mich zum Essen geladen.« Darauf schwieg die Platte. Die Familie wohnte in der Nähe. Die Freunde waren neugierig; darum gingen sie hin, um sich nach der Sache zu erkundigen. Da hörten sie, daß man dort wegen eines Krankheitsfalles Opfer dargebracht hatte.

Tags darauf kam der Geist wieder. Man fragte ihn: »Warst du bei den Leuten zum Essen?«

»Ja«, kam es heraus.

»War es gut?«[194]

»O ja, ziemlich.«

Da fragten sie ihn höhnisch: »Die Leute haben doch Götter gebeten, nicht berühmte Männer. Sie wollten den Stadtgott oder den Ackergott haben. Wie kann ein so großer Mann wie du dahin gehen, um bei ihnen zu essen?«

In die Enge getrieben, hieß es: »Ich bin gar nicht der Doktor. Ich bin Li Be-Niän aus Schantung.«

»Wer war denn Li Be-Niän?« fragten sie.

»Ich war ein Baumwollhändler zur Zeit Kanghis und starb hier unterwegs. Meine Seele wohnt in dem Tempelchen bei der Brücke. In dem Tempelchen hausen außer mir noch zwölf andere heimatlose Seelen. Weil wir keine besondere Schuld hatten, können wir uns frei bewegen. Die Opfer, die so im Dorf herum gebracht werden, kommen alle uns zugut.«

Sie fragten: »Die Opfer für den Stadtgott und die andern Götter sind doch alle an einen bestimmten Namen gerichtet. Wie könnt ihr namenlosen Seelen euch denn unter diese Götter mischen?«

Da hieß es: »Der Stadtgott und die andern gehen nicht so ohne weiteres in der Leute Häuser. Die Opfer, die man dort bringt, bleiben alle von ihnen unberührt. Das machen wir uns zunutze.«

Nun fragte man: »Wenn ihr Namenlosen die Opfer der himmlischen Götter aufeßt, und die erfahren es, bestrafen sie euch da nicht?«

»Was fragen die himmlischen Götter nach solchen Gebeten! Das sind alles nur Gebräuche und Sitten der törichten Menschen. Kommt es doch vor, daß Dämonen die Leute besessen machen, um Speiseopfer zu erpressen, und es geschieht ihnen selbst dann nichts. Wieviel weniger werden sich die Himmlischen darum kümmern, wenn wir uns Speiseopfer zunutze machen, die wir nicht erpreßt, sondern die die andern von sich aus hingestellt haben. Der Tee und Wein, den ihr mir dargebracht habt, ist ja auch nicht von mir erpreßt worden.«[195]

»Wenn es so ist,« fragte man weiter, »warum hast du dann den Namen jenes berühmten Doktors angenommen?«

»Euer Hausgeistchen hielt die Beschwörung in der Hand und suchte nach einem Geist. Es getraute sich aber nicht, von droben wirkliche Heilige zu bitten. Es holte immer nur einen von uns dreizehn. Da von uns allen aber nur ich allein ein wenig schreiben kann, so machte ich mich frei, um euren Wünschen zu entsprechen. Wenn ich aber meinen wirklichen Namen Li Be-Niän genannt hätte, hättet ihr mich dann etwa so geehrt? Nun sah ich, daß hier am Ort viele Familien jenen Doktor gebeten hatten, Inschriften für sie zu schreiben; daher wußte ich, daß es ein berühmter Mann war, so kam ich denn unter seinem Namen.«

»Wenn euresgleichen nicht gebunden sind,« fragte man, »warum kehrst du denn dann nicht nach Schantung zurück?«

»An den Pässen, Furten und Brücken sind überall Geister. Wenn man denen kein Geld gibt, lassen sie einen nicht durch.«

»Wenn ich dir hundert Papiergeldstücke verbrenne, daß du heim kannst, ist dir das recht?«

»Ja, ja, vielen Dank! Aber wenn Ihr mir eine Gunst bezeugen wollt, so brauche ich noch weitere hundert Geldstücke, damit ich den Brückengeist, bei dem ich gewohnt, abzahlen kann; sonst komme ich immer noch nicht im Guten fort.«

So verbrannte der Mann Papiergeld, um dem Geiste das Geleite zu geben. Er hat aber seitdem keine Geister mehr gerufen.

Quelle:
Wilhelm, Richard: Chinesische Volksmärchen.Jena: Eugen Diederich, 1914, S. 194-196.
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