Die glückseligen Inseln des ewigen Lebens.

[146] Wo diese Inseln, von denen man in Japan so oft erzählen hört, eigentlich liegen, das vermag Niemand zu sagen. Manchmal freilich berichten Leute, welche am Gestade des Ostmeeres wohnen, von einem herrlichen Baume, den sie über die Fluthen emporragen sahen. Das ist der Baum, der auf dem höchsten Gipfel des Fusan, des größten Berges der glückseligen Inseln, steht. Und wie freuen sich die Sterblichen, wenn sie dies Wahrzeichen jenes heiligen Landes erblicken, zu dem nur Auserlesene den Zugang finden! Wie sehnsüchtig schauen sie hin nach dem wunderbaren Baume, und wie emsig suchen sie die Richtung zu erspähen, in welcher das glückselige Horaisan – so nennt es der Japaner – gelegen ist! Kaum aber glauben sie Sicherheit[146] darüber erlangt zu haben, dann verschwindet der Baum vor ihren Augen, und es ist sehr ungewiß, ob er jemals wieder sichtbar wird.

So leben denn die Menschen noch heutigen Tages der Hoffnung, daß der Weg zu den glückseligen Inseln gefunden werde, deren Wunder sie zu preisen nicht aufhören. Denn dort grünt und blüht alles das ganze Jahr hindurch; ein ewiger Frühling erhält die Luft lind und den Himmel blau. Dort geht die Zeit spurlos am Menschen vorüber, und der Tod findet dorthin keinen Weg; dieser böse Gast, der den Menschenkindern so arge Qualen bereitet, ist auf den glücklichen Inseln des ewigen Lebens unbekannt. Dort giebt es keine Pein, keinen Schmerz; in Frieden und Freuden vergeht die Zeit. Die Vögel, welche das Entschwinden des Sommers beklagen und vor Einbruch des Winters fortziehen, flüchten nach Horaisan. Ganz genau weiß man dies von den sanften Schwalben. Anders ist es mit den Wildgänsen, die den Winter nicht fürchten, aber dennoch, von Sehnsucht getrieben, den Weg zu den glückseligen Inseln suchen. Man erzählt, daß sie, um den Zugang von den Göttern zu erbitten, kleine Holzstäbchen und allerlei Reisig sammeln und im Schnabel auf die Reise mitnehmen. Kommen sie nun ans äußerste Gestade des von den Sterblichen bewohnten Landes, so legen sie ihre Gabe dort nieder, und die Strandbewohner finden oftmals Häufchen solcher Reiser, welche die Wildgänse zurückließen, wenn sie nach Horaisan hinüberfliegen wollten.

Manchmal, wenn kühne Seefahrer vom Festlande aus es unternahmen, das Land des ewigen Lebens aufzusuchen, kamen sie nicht weiter als nach Japan, und so ist es gekommen, daß beide Länder mit einander verwechselt wurden, und daß man wohl vermeinte, der hohe Fujiyama sei der herrliche Fusan. Das war aber ein großer Irrthum, denn das Reich Horaisan ist noch weit, weit von Japan entfernt, viel weiter als Japan von China entfernt ist, und nur übernatürliche Mächte vermögen einen Menschen dorthin zu führen.[147]

Dies ist jedoch, wie die Sage lautet, einige Mal der Fall gewesen; der weise Japaner Wasobiowe aber war – außer einem Abgesandten des alten Mikado Suinin, von dem die Heldensage berichtet, und der die Orange aus Horaisan mitbrachte – wohl der Einzige, der je von dort heimkehrte, und ihm ist es vorbehalten gewesen, wirkliche Kunde von dem wunderbaren Lande zu geben. Wenn nämlich die Götter irgend einem Sterblichen so zugethan waren, daß sie ihn den Weg nach Horaisan finden ließen, so kam es ihm schwerlich in den Sinn, das vollkommen glückliche Leben, das er dort führte, mit dem früheren unvollkommenen zu vertauschen. So geschah es, daß einst ein Kaiser von China sein Land so schlecht regierte und ein so grausamer Despot war, daß sein Leibarzt Jofuku beschloß, sich dieser Tyrannei und der steten Gefahr, in der sein Leben schwebte, zu entziehen. Er sprach eines Tages zu dem Herrscher: »Gieb mir ein Schiff und Gefolge und laß mich ausziehen, um das glückselige Reich Horaisan zu finden und dort das Kraut der Unsterblichkeit zu suchen, das auf dem Berge Fusan wächst. Dies bringe ich dir dann zurück, und hast du es in deinem Besitze, so hast du nichts zu fürchten und hast es ganz in deiner Macht, deine Tage zu verlängern und dich schließlich zum Herrscher der ganzen Erde zu machen.« Diese Worte waren dem Tyrannen lieb zu hören, und er besann sich keinen Augenblick, seinen Leibarzt Jofuku mit großem Gefolge nach Horaisan zu senden. Jofuku, der sehr froh war, daß er sich, seine Freunde und deren Angehörige der Gewalt des Tyrannen entzogen hatte, schiffte sich ein, kam auch nach Japan, fuhr aber weiter und weiter, bis er in der That die glückseligen Inseln erreichte. Dort angekommen, genoß er in vollen Zügen das Glück, das ihm beschert war, und dachte nicht daran, zurückzukehren und die Tage seines Gebieters über die natürliche Dauer seines Lebens zu verlängern. Der Japaner Wasobiowe aber, dem er nachmals diese seine Geschichte erzählte, gelangte auf folgende Weise nach Horaisan.

Er war ein alter, würdiger Mann, der sich von den[148] alltäglichen Geschäften zurückgezogen hatte und in beschaulicher Ruhe seine Tage in der Nähe von Nagasaki verbrachte. Nur ein Koch und ein Bursch waren bei ihm, und wenn er seiner Lieblingsbeschäftigung nachging und in einem kleinen Bote auf das Meer hinausfuhr, um zu angeln, dann mußten diese beiden sein Haus hüten, und oft, recht oft blieb er tagelang fort. Einst, als die achte Vollmondnacht des Jahres hereinbrach, die ja von allen die schönste ist, beschloß er, um den zahlreichen üblichen Besuchen aus dem Wege zu gehen, eine Fahrt auf das Meer hinaus zu machen. Deshalb nahm er seine Angelschnur und setzte sich in den Kahn. Er war ein gewandter, kundiger Schiffer, und so machte es ihm nichts aus, ob die Nacht- oder die Tageszeit ihn auf dem Wasser traf. Gemächlich fuhr er am Gestade dahin und freute sich des prachtvollen, hellen Mondscheines, der ihn die Schönheiten der Landschaft erkennen ließ. Doch plötzlich zogen schwarze Wolken herauf, der Regen rauschte in Strömen herab und pechschwarze Finsterniß umgab ihn. Bald brach der Sturm los und thürmte die Wellen zu Bergen empor, auf denen sein Schiffchen wie ein Ball umhertanzte. Der schwache Mast brach denn auch alsobald in Stücke und verschwand mit dem Segel in der schäumenden Fluth. Wasobiowe aber verlor den Muth nicht und ruderte und kämpfte tapfer um sein Leben. Sein mastberaubtes Fahrzeug schoß pfeilschnell vor dem Sturme dahin, und es war nicht daran zu denken, das heimathliche Ufer zu erreichen, denn Wasobiowe schätzte die Entfernung sehr bald auf mehr denn tausend Wegstunden. Als der Tag anbrach, ließ der Sturm keineswegs nach; im Gegentheil, seine Wuth verdoppelte sich, so daß die weite Wasserfläche nur ein einziger Gischt und Schaum zu sein schien, aus dem die Wogen sich haushoch heranwälzten. Und so mußte der unverzagte Schiffer drei Tage und drei Nächte mit Sturm und Wogengebrause kämpfen. Er hatte sich längst in sein Schicksal ergeben, als mit einem Male der Sturmwind sich legte und Ruhe an die Stelle des heulenden Unwetters trat. Wasobiowe, der den Lauf der Sterne kannte,[149] sah nun klar, wie unendlich weit er von seiner Heimat Japan entfernt war, und da er nirgends ein gastliches Gestade erspähen konnte, so mußte er sich darein ergeben, aufs Gerathewohl durch das Meer dahinzufahren. Zum Glück hatte er noch seine Angelschnur; diese warf er aus und fristete mit Fischen, die er fing und roh verzehrte, sein Leben. Tag für Tag, Woche auf Woche verrann, ohne daß seine Lage sich änderte, und so ruderte er drei Monate, bis er in die schlammige See kam, in ein böses Gewässer, von dem er nur verlorene Kunde vernommen. Er war sehr erstaunt über diese Begebenheit, die ihm aber auch beinahe das Leben gekostet hätte; denn in dem schlammigen Meere hielt sich kein Fisch auf, und so glaubte er schon, er sei dem Hungertode preisgegeben. Er ruderte und ruderte indessen, bis ihn seine Kräfte zu verlassen anfingen; da umspielte ein würziger Landwind seine Schläfe, und neu belebt ergriff er die Ruder und gelangte nach zwölf ferneren mühevollen Stunden zu dem Gestade von Horaisan.

Noch wußte er nicht, wo er war, und verwundert blickte er umher, als er sein Fahrzeug verlassen. Glück und Wonne umgaben ihn; er fühlte keine Schwäche und wußte nichts mehr von allen Gefahren seiner Reise. Da näherte sich ihm ein ehrwürdiger Greis, den er verstand, denn er sprach chinesisch, und dieser war eben jener Jofuku, den einst sein Gebieter ausgesandt hatte, um das Kraut der Unsterblichkeit zu suchen. Er begrüßte den Wasobiowe aufs freundlichste, erzählte ihm seine Geschichte und fügte hinzu, daß er nicht gesonnen sei, je wieder nach China zurückzukehren. Wasobiowe aber freute sich über alle Maßen, als er hörte, wo er war, und pries die Götter für das ihm bescherte Glück. So blieb er in Horaisan wohl ein paar hundert Jahre; doch wußte er nicht, wie lang der Zeitraum war, denn dort, wo alles sich gleich bleibt, wo keine Geburt und kein Tod vorkommt, da achtet Niemand auf die rollende Zeit. Mit Tanz und Musik, im Gespräch mit weisen und geistreichen Männern, im Umgange mit schönen und liebenswürdigen Damen vergingen ihm seine Tage.[150]

Endlich aber – er hätte es kaum für möglich gehalten – ward Wasobiowe des süßen Daseins müde; er sehnte sich nach dem Tode. Doch dieser Wunsch war unerfüllbar; hier konnte er nicht sterben, und hätte er gewaltsam seinem Leben ein Ende machen wollen, es wäre auch das unmöglich gewesen. Hier gab es keine Gifte, keine todbringenden Waffen; ein Hinabstürzen in Abgründe, ein Anrennen an spitze Felsen oder ähnliche Gegenstände war so viel als ein Fall auf weiche Polster; wollte er sich in die See stürzen, so trug ihn das Wasser wie Kork. Dem armen Wasobiowe, zum Tode müde, konnte hier nicht geholfen werden. In dieser Noth kam ihm eines Tages ein guter Gedanke. Er beobachtete die großen Vögel des Landes und beschloß, eines dieser Thiere zu zähmen und auf dessen Rücken die Heimreise zu wagen. Er wählte sich zu dem Zweck einen riesenhaften Storch aus, der ihm auch sehr zugethan wurde und ihn auf seinen Zuruf trug, wohin er wollte. Als die Zeit ihm passend und gut däuchte, da versorgte er sich mit reichlichem Vorrathe der ausnehmend nahrhaften Speisen von Horaisan, stieg auf den breiten Rücken des Thieres, und fort flog er über das Meer hinweg. Durch viele sonderbare und merkwürdige Länder brachte ihn der Storch; das wunderbarste unter allen aber war das weit, weit ablegene Land der Riesen, welche den Menschen in jeder Hinsicht unendlich überlegen sind. Und während Wasobiowe gewohnt war, in allen Landen bewundert zu werden, wenn er seine philosophischen Ansichten und Systeme kundgab, zog er hier beschämt von dannen; denn die Riesen sagten, sie bedürften von alledem nichts, und erklärten Wasobiowe's ganze Philosophie für unvollkommenen Nothbehelf der Menschenkinder.

So sah denn Wasobiowe auf dieser Reise alles was unter der Sonne und über der Erde sich befindet; alle Länder der Welt lernte er kennen, und als er endlich in seiner geliebten Heimat, in Japan, auf dem Rücken des Storches ankam, da vermochte er seinen Landsleuten über alles Nachricht zu bringen, und sie horchten seinen Erzählungen und waren sehr froh, eine Beschreibung des Reiches[151] Horaisan durch seinen weisen Mund zu bekommen. Daß Wasobiowe nichts berichten konnte von dem, was über den Sternen und unter dem Meere war, das kümmerte ihn und seine Landsleute wenig; denn den Himmel hat Budha bekannt gemacht, und von den Tiefen des Oceans hat Uraschimataro erzählt, und dem brauchte er nichts hinzuzufügen. Die Geschichte aber, die Wasobiowe von den glückseligen Inseln erzählte, hat sich erhalten, und damit man den Erzähler nicht über den wundervollen Begebenheiten seines Lebens vergesse, bildet man ihn fortwährend auf allerlei Weise ab, wie er auf dem Rücken des großen, schönen Storches steht und bereit ist, die Welt zu durchfliegen.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 146-152.
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