Jikaku.

[303] Vor mehr denn tausend Jahren lebte in Japan ein buddhistischer Priester von großem Ansehen, Jikaku geheißen. Sein segensreiches Wirken ward aber dadurch gar sehr beeinträchtigt, daß ihn ein äußerst hartnäckiges Augenleiden befiel. Er wandte alle erdenklichen Mittel dagegen an, aber lange Zeit hatte keines derselben irgend welchen Erfolg; als Jikaku jedoch sich ein kleines Bildniß des erhabenen Gottes der Heilkunst, des Yakuschi Niurai, der mit Buddha nach Japan gekommen, angefertigt hatte und es in inbrünstiger Verehrung bei sich trug, da schwand das Uebel endlich. Jikaku behielt jenes Bildniß stets bei sich, und es war das theuerste, was er besaß.

Fünf Jahre nach seiner Heilung sah sich Jikaku genöthigt, eine weite Reise über die See nach China zu machen. War ihm jenes Bildniß schon zuvor als ein heiliges Amulet erschienen, so stieg doch auf dieser Reise seine Verehrung für dasselbe noch weit mehr; denn was für Gefahren ihn immer im fremden Lande in der Waldeinsamkeit bedrohen mochten, die er behuf seiner Studien und frommen Meditationen aufsuchte, stets schützte ihn jenes Bild. Weder Räuber, noch wilde Thiere, weder Krankheit noch Hunger vermochten ihm etwas anzuhaben.

So kam denn endlich – man sagt, nach neun Jahren – die Zeit, wo Jikaku in seine Heimat zurückkehrte. Die Fahrt ging diesmal nicht so glücklich von Statten, als bei der Hinreise; es war, als sei die Kraft des wunderthätigen Bildnisses erschöpft. Eben als das Fahrzeug eine felsige Insel passiren wollte, an welcher Wirbelstürme schon manches Schiff hatten scheitern lassen, und welche deshalb im Munde des Volkes die Insel der bösen Geister hieß, erhob sich ein gräßliches Unwetter; aus den schäumenden Wogen aber erhob ein Meerungeheuer von schwarzer Farbe und erschreckender Größe drohend sein Haupt. Jikaku wußte keinen anderen Rath, als unablässig zu seinem sonst[304] immer erprobten Helfer Yakuschi zu beten. Und da erschien ihm dieser auf dem Rücken eines großen Polypen oder Kraken, den die Japaner Tako nennen, inmitten der Wogen und sprach: »Ich vermag dir diesmal nicht zu helfen; schleudere deshalb das liebste, was du hast, in das Meer, dann wird ohne Zweifel der Meeresgott versöhnt sein.« Das kostbarste, was Jikaku besaß, war unbedingt jenes Bildniß; blutenden Herzens warf er es ins Wasser, und augenblicklich legte sich der Sturm. Und so oft auch Jikaku in Zukunft noch über das Meer fuhr, niemals betraf ihn wieder auf seinen Fahrten der geringste Unfall.

Unablässig aber trauerte er um sein theures Amulet und betete viel zu Yakuschi Niurai, er möchte es ihm doch wieder verschaffen. Nach langen Jahren fand er Erhörung; Yakuschi erschien ihm im Traume und hieß ihn nach der Insel Kiuschiu reisen und dort am Meeresufer ruhig das weitere erwarten. Jikaku ging denn auch ohne Säumen dorthin und nahm seinen Aufenthalt auf der Insel Hirado, die ganz nahe der Küste liegt, und hier versäumte er nicht, beständig zu seinem Schutzpatron zu beten. Als er nun eines Abends dies am Strande mit Inbrunst that, erschien ihm auf dem Meere in überirdischem Lichte ein Polyp, ganz ähnlich dem, auf welchem er einst den Yakuschi hatte erscheinen sehen, und auf dem Rücken desselben lag sein Amulet. Anderen Abends hatte er die nämliche Erscheinung; als er aber um dieselbe Zeit das dritte Mal an den Strand trat, kam der Polyp zu ihm herangeschwommen und brachte ihm das Bildniß des Yakuschi wieder.

Hiernach ward er immer berühmter durch die unfehlbare Heilkraft, welche er mit Hülfe dieses Wunderbildes ausübte. Aber eifersüchtig wachte Yakuschi darüber, daß ihm überall von Jikaku Verehrung gezollt würde. Als dieser einstmals einem anderen Gotte aus Buddha's Gefolge, dem Kriegsgotte Fudoo, nicht weit von Yedo einen Tempel geweiht, brach eine Seuche aus, und Fudoo selber erschien dem Jikaku und wies ihn an, dem Yakuschi im nämlichen Tempel einen heiligen Schrein aufzustellen,[305] und als dies geschehen, hörte die Pest auf. Nun aber fertigte Jikaku aus Dankbarkeit ein neues Bildniß des Gottes an, welches denselben auf dem Rücken eines Polypen oder Tako darstellte; er versah dasselbe mit einer Höhlung, in welche er sein früheres Amulet that. Dies Wunderbild erwies sich in der Folge als ganz vorzüglich heilkräftig, und so ist es üblich geworden, den Yakuschi Niurai statt, wie früher, auf einer Lotosblume, auf einem Tako stehend abzubilden.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 303-306.
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