Der Mann an der Felswand.

[408] In einem wilden Gebirge, nahe bei einem Dorfe, stürzte einst ein Berg ein, und viele Menschen fanden dabei ihren Tod. Dieses schreckhafte Ereigniß war fast schon vergessen, so lange Zeit war darüber verflossen, als ein Mann, welcher in derselben Gegend am Fuße einer steilen, viel hundert Fuß hohen Felswand sich ein Haus gebaut hatte, eines Tages an dem Felsen den Schatten eines Menschen erblickte, den er niemals zuvor gesehen. Dieser Schatten zeichnete sich von Tage zu Tage schärfer ab; er färbte sich immer tiefer und natürlicher. Ganz deutlich erkannte man die verschiedenen Theile einer menschlichen Gestalt, und endlich sah man sogar Mund, Augen und Gesichtszüge sich bewegen. Der Anwohner der Felswand faßte sich nun ein Herz und ging näher heran, und da fand er in der That einen vollständigen Menschen, der aber an der Felswand festsaß. Als er ihm Speise bot, nahm derselbe sie auch sofort und ohne alle Schwierigkeit zu sich. Darauf ging der Andere täglich hin und brachte dem Mann am Felsen Speise, und zuletzt, nachdem er eine Zeitlang auf diese Weise gestärkt war, löste sich derselbe von der Felswand los und konnte mit dem Anderen von dannen gehen. Er verweilte längere Zeit bei seinem Freunde, arbeitete für denselben, und dieser gab ihm seinen Lebensunterhalt. Als er sich von dem Felsen losgelöst, schien er zwanzig Jahr alt zu sein, daher ihm sein Freund auch eine Frau verschaffte. Er hatte nachmals einen Sohn, und diesen hat Ise, die Verfasserin der vielgelesenen nach ihr benannten Erzählungen, welcher wir die Aufzeichnung der denkwürdigen Begebenheit verdanken, noch lebend gekannt. Das Volk nannte ihn den Sohn des Gespenstes.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 408-409.
Lizenz:
Kategorien: