20. Wem gehört die Braut?

[101] In alten Zeiten lebte in Tiflis ein Kaufmann. Der hatte eine Tochter, Mariat mit Namen. Ein sehr schönes, sehr gescheites und sehr gelehrtes Mädchen war sie. Ihr Vater wollte sie nur dem zur Frau geben, der ihm ein ganz besonderes Kunststück würde vorführen können. Die Kunde von dem Mädchen aber und von dem Entschlüsse ihres Vaters war in die ganze Welt hinausgegangen.

Nun lebte da in Erzerum ein Mann; wenn der die Hand an die Augen tat und sich niederlegte, so sah er alles, was auf der ganzen Welt vor sich ging. Und in der Stadt Buchara lebte ein Mann, der hatte eine Flinte, die nie ihr Ziel verfehlte. Und in Afghanistan war einer, der verfertigte aus Holz verschiedene Sachen; wenn man sich daraufsetzte, konnte man in einer Stunde einen monatelangen Weg zurücklegen.

Alle drei machten sie sich auf die Suche nach der Kaufmannstochter. Sie kamen nach Tiflis und baten dort um ihre Hand.[101]

»Ja, so geht das nicht,« sagte der Kaufmann, »zuerst will ich wissen, was ihr könnt.«

»Ich kann alles sehen, was auf der Welt vorgeht«, antwortete der Erzerumer.

»Ich habe eine Flinte, die nie ihr Ziel verfehlt« sagte der aus Buchara.

»Und ich kann Dinge aus Holz schnitzen, mit denen man in einer Stunde einen monatelangen Weg zurücklegen kann«, fügte der aus Afghanistan hinzu.

»Danke schön!« sagte der Kaufmann, »ich sehe schon, ich darf keinen von euch ohne weiteres wegschicken. Jetzt laßt mich nur nachdenken, wem ich sie geben soll.«

»Gut, wir erwarten deine Entscheidung«, sagten die drei.

Am Morgen kam der Kaufmann zu den drei Bewerbern und teilte ihnen mit, seine Tochter sei in der Nacht spurlos verschwunden. »Jetzt ist es Zeit, eure Künste zu zeigen,« setzte er hinzu, »macht euch bereit sie zu suchen und sie mir zurückzubringen.«

Da schauten sich die drei an. »Du,« sagte einer von ihnen zum Erzerumer, »schau nach, wo sie ist.« Der legte sich auch gleich nieder, tat die Hand an die Augen, suchte und sprach dann: »Im Schwarzen Meer ist eine Insel; auf der Insel eine Djinnfestung, in dieser Festung sitzt das Mädchen gefangen.«

»Gleich werd' ich dort sein«, sagte der Afghane, und der aus Buchara setzte hinzu: »Ich gehe mit, und bringe sie zurück und wenn's mich das Leben kostet!«

Der Afghane machte sich ein Reitzeug, setzte sich darauf und nahm den Bucharer mit. Bald waren sie auf der Insel der Djinnen, die der Bucharer mit seinem nie fehlenden Gewehr einen nach dem andern abschoß. Dann holten sie das Mädchen und brachten es zu ihrem Vater zurück.

Zu Hause aber brach ein Streif aus zwischen den dreien. Jeder wollte sie haben, denn jeder hatte ein Recht darauf.

»Wenn ich sie nicht gesehen hätte ...« sagte der Erzerumer.[102]

»Wenn ich das Reitzeug nicht gemacht hätte ...« der Afghane und »Wenn ich die Djinnen nicht totgeschossen hätte ...« der Bucharer.

So stritten sie.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 101-103.
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