54. Satanas Geburt

[191] Die Mutter des Geschlechts Bóra hieß Sasána. Zu der schickte eines Tages Uástyrdji einen Boten und ließ ihr sagen: »Ich will dich zur Geliebten haben.« Sie ließ ihm antworten, sie werde niemandem Gehör schenken, als ihrem eigenen Manne. Uástyrdji antwortete: »Wenn du auch tot bist, ich lasse nicht von dir!« Als nun Sasána im Sterben lag, trug sie[191] ihren drei Söhnen, Chämyts, Urýsmäg und Sósryqo60 auf, sie im Grabe zu bewachen. Die erste Nacht nach ihrem Tode bewachte sie Urýsmäg. Um Mitternacht kam Uástyrdji; es wurde Tag, die Sonne ging auf, und die Leute trieben ihr Vieh auf die Weide. Aber Urýsmäg ließ sich nicht täuschen. »Du Schlauer,« sagte er zu Uástyrdji, »damit kannst du mich nicht täuschen.« Und blieb beim Grabe und ging erst nach Hause, als der wirkliche Morgen kam.

Die zweite Nacht wachte Sósryqo. Wieder kam Uástyrdji um Mitternacht, und wieder wurde es Tag, aber auch Sósryqo ließ sich nicht täuschen und ging erst am Morgen nach Hause.

Die dritte Nacht war Chämyts an der Reihe. Als es um Mitternacht wieder hell wurde, glaubte Chämyts, es sei Tag geworden und beschloß wegzugehen. »Was soll ich hier noch länger sitzen, es ist ja Tag,« sagte er, »ich gehe lieber auf die Hochzeit der Alagá.« Das tat er denn auch. Uástyrdji aber ging zur Sasána, beschlief sie zuerst selbst und ließ dann zuerst seinen Hengst und danach auch seinen Windhund zu ihr; dann flog er in den Himmel zurück.

Nun kam einer zu den Alagá und berichtete, aus der Gruft der Borá höre man das Weinen eines Mädchens, das Wiehern eines Füllens und das Bellen eines Welps. Als Urýsmäg dies hörte, sagte er: »Ach, ach, da ist mein Bruder daran schuld; der hat unsere Mutter nicht ordentlich bewacht!« Als er in die Gruft kam, sah er, daß seine Mutter ein Mädchen, ein Füllen und einen jungen Hund geboren hatte. Er nahm sie mit nach Hause und zog sie auf. Das Kind wurde sehr hübsch; man gab ihr den Namen Satána. Aus dem Füllen wurde der Schecke Durdura, aus dem Welp ein guter Windhund.

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Sósryqo war zwar nicht ihr Sohn, aber da er mit den beiden andern lebte, ließ sie ihn auch zu sich rufen.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 191-192.
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