76. Die drei Diebsbrüder

[266] Es war einmal ein armer Mann, der hatte drei Söhne, die einander sehr glichen; derselbe Wuchs, dieselbe Stimme, dieselbe Weise zu sprechen. Man konnte sie bloß an ihrem Namen unterscheiden: der älteste hieß Hadji, der zweite Nadr, der jüngste Bädyr. Als ihr Vater starb, erbten sie ein leeres Haus und einen Ziegenbock. Ein Jahr nach dem Tode ihres Vaters beschlossen sie zu teilen; da das Erbe aber gar zu gering war, gaben sie alles dem ältesten und die jüngeren übersiedelten in ein anderes Dorf. Bald reute die beiden die Sache aber und sie machten aus, zu Hadji zu gehen und ihn wenigstens um den Bock zu bitten. Als Hadji von ihnen gehört hatte, warum sie gekommen waren, jagte er sie aus dem Hause. Dafür beschlossen sie in der Nacht den Bock zu stehlen. Aber Hadji hatte von ihrer Absicht Wind bekommen, schlachtete das Tier und versteckte es mit Hilfe seiner Frau in einem Heuschober. Als die beiden Nachts kamen, fanden sie das Haus verschlossen und Hadji und seine Frau schlafend vor. Lange suchten sie den Bock, aber vergebens. Dann stiegen sie aufs Dach, Bädyr ließ sich an[266] einem Strick ins Innere hinunter, tastete sich ans Ehebett, legte sich neben Hadjis Frau, weckte sie auf und frug: »Du, Frau, wo haben wir doch den Bock versteckt?« Noch im Halbschlaf antwortete sie: »Ach, wie dumm du bist, hast's schon wieder vergessen, daß wir ihn geschlachtet und das Fleisch im Heuschober versteckt haben.« Nun hatte Nadr erfahren, was er wissen wollte. Er gab Bädyr ein Zeichen, ihn wieder heraufzuziehen und dann holten sie sich den Bock aus dem Heuschober. Eine Stunde später wachte Hadji auf, erfuhr von seiner Frau, was vorgefallen war, stand auf und lief seinen Brüdern nach. Nun war der eine der beiden jüngeren ein wenig zurückgeblieben, um an seinem Schuhwerk etwas in Ordnung zu bringen, und den holte Hadji ein, ging aber unbemerkt an ihm vorbei und lief dem andern, Nadr, der den Bock trug, nach. Als er auch diesen eingeholt hatte, sagte er: »Bruder, du bist müde, gib mir jetzt den Bock und ruh dich ein wenig aus.« Nadr glaubte, Bädyr spräche mit ihm, übergab Hadji den Bock und ging weiter. Dieser aber ging absichtlich etwas langsamer und verschwand im günstigen Augenblick in der Richtung auf sein Dorf zu. Bald darauf holte aber Bädyr den Nadr ein, sah, daß dieser keinen Bock mehr hatte und frug ihn, was denn los sei. »Ja«, sagte Nadr, »hast du mir denn nicht selbst den Bock abgenommen?« »Nein«, entgegnete Bädyr. Da begriffen sie, daß Hadji ihnen einen Streich gespielt hatte, kehrten spornstreichs um und liefen ihm nach. Bädyr kam zuerst zu Hadjis Haus, ging hinein, zog Frau Hadjis Kleider an, setzte sich neben die Türe und erwartete Hadji. Der ließ auch wirklich nicht lange auf sich warten. In der Dunkelheit glaubte er natürlich mit seiner Frau zu tun zu haben, und sagte: »Du, Frau, komm schnell her und hilf mir den Bock verstecken, ehe meine Brüder kommen.« Bädyr aber erklärte ihm mit Gesten, es seien Räuber gekommen und die seien jetzt im Pferdestall. Hadji glaubte, seine Frau habe aus Schrecken über den Vorfall die Sprache[267] verloren, legte den Bock nieder und lief in den Stall. Bädyr zog die Frauenkleider aus, nahm den Bock und machte sieh mit dem inzwischen angekommenen Nadr auf den Heimweg. Inzwischen kam Hadji aus dem Stall, in dem er niemanden gefunden hatte, zurück, trat ins Haus und fand zu seiner Verwunderung seine Frau im Bette liegend und schlafend vor. Er weckte sie auf, frug sie aus und erfuhr, daß ihn seine Brüder wieder angeführt hatten. Gleich lief er ihnen wieder nach, konnte sie aber nicht mehr einholen. Da stieg er nun aufs Dach seiner Brüder und sah durch den Rauchfang, daß sie sich das Fleisch des Bockes teilten. Dazu brauchten sie aber eine Wage und weil sie keine hatten, ging Nadr zu einem Nachbar, um eine zu entlehnen. Das benützte Hadji und rief Bädyr zu: »Der Nachbar will mir seine Wage nicht geben, geh du und hole eine!« »Geh selber zu einem andern!« antwortete Bädyr. Hadji wartete eine kurze Zeit und rief dann nochmals: »Niemand will mir eine Wage leihen.« »Komm' runter und bleib' bei dem Fleisch da, ich will selber gehen und schauen, ob ich nicht doch eine auftreibe«, rief Bädyr, der immer noch glaubte, es sei Nadr, der durch das Rauchloch herunterrufe77. Hadji erfüllte natürlich gerne seine Bitte, raffte schnell das ganze Fleisch zusammen, lief nach Hause, zündete ein Feuer an und schickte sich an, das Fleisch zu braten. Nadr und Bädyr aber fanden das Nest leer, als sie mit der Wage nach Hause kamen. Sie begriffen natürlich sofort, wer sie überlistet hatte und bereuten ihren Ungehorsam gegen den ältesten Bruder, dem sie sich doch nach Brauch und Sitte unterordnen mußten. Sie beschlossen daher, ihn um Verzeihung zu bitten. Hadji gewährte diese großmütig, als er sie vor sich auf den Knien liegen sah, küßte sie und lud sie ein, den Bock mit ihm zu verspeisen.

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Darin liegt nichts Unmögliches. In der Gegend, aus der die Geschichte stammt, gibt es vielfach noch halb unterirdische Wohnungen mit flachem, sanft ansteigendem Dach; auch die Dächer ganz über der Erde stehender Hauser können doch von der Seite, wo sie sich an Unebenheiten des Geländes anlehnen, leicht bestiegen werden.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 266-268.
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