78. Die dumme Frau

[271] Ein Mann hatte zwei Frauen, eine gescheite und eine dumme. Eines Tages ging der Mann mit seiner gescheiten Frau aufs Feld und befahl der dummen, sie solle die Türe, d.h. das Haus hüten. Sie setzte sich also neben die Türe und hütete sie, bis es ihr zu langweilig wurde. Dann hängte sie die Türe aus und ging damit zum Nachbarn. Als der Mann und die gescheite Frau nach Hause kamen, sahen sie, daß weder Türe noch Dumme da waren. Schließlich, nachdem sie ziemlich lange gewartet hatten, kam diese und brachte auch die Türe wieder mit. Auf die Frage, was das bedeuten solle, antwortete die Dumme, sie hätten ihr ja befohlen, die Türe zu hüten, welchen Befehl sie getreulich ausgeführt habe. Doch bekam sie von den beiden tüchtige Prügel. Das war ihr aber zu dumm; sie lief davon, ins Feld hinaus und kletterte auf einen Baum. Nach einiger Zeit kam eine Henne mit ihren Küken zu dem Baume und als sie gackerte, um ihre Kinderchen zu sich zu rufen, glaubte die Dumme, die Henne bäte sie, nach Hause zurückzukehren und rief vom Baume herunter: »Nein, ich gehe nicht heim, um keinen Preis geh' ich heim!« Dann kam ein Hund; der bellte. Wieder glaubte die Dumme, es gelte ihr und sie rief dem Hunde dieselbe Weigerung zu. Schließlich[271] kam ein Kamel; dem glaubte die Dumme nichts verweigern zu dürfen, kletterte herunter, band ihm ihr Kopftuch um den Hals und führte es zu sich nach Hause. Als ihr Mann und die Gescheite sie zurückkommen sahen und noch dazu mit einem Kamel, freuten sie sich und sagten: »Gib acht, heute kommt ein starker Regen, der die Menschen blind macht; wenn du nicht willst, daß dir etwas passiert, dann setze dich in den Backofen.« Das sagten sie aber nur, weil sie etwas vorhatten. Kaum war nämlich die Dumme in den Backofen gekrochen, da schlachteten sie das Kamel und versteckten das Fleisch, sowie das Gold, das sich in der Last des Kameles fand. Bald darauf kam ein Unbekannter; den hatte der Besitzer des Kamels auf die Suche nach dem verlorenen Tier geschickt. Der Mann war schlau: »Wenn ich so ohne weiteres frage, ob sie das Kamel haben, werden sie es leugnen,« dachte er, »'s ist besser, ich sage, ein Kranker hätte Lust nach Kamelfleisch, gebt mir ein wenig.« So tat er denn auch, aber die beiden sagten, sie hätten keines. Die Dumme aber hatte alles gehört und rief aus ihrem Versteck heraus: »Wieso? Wo habt ihr denn das Fleisch des Kamels hingetan, das ich euch gebracht habe?« Der Bote wußte jetzt genug, er ging zum Besitzer des Kamels und erzählte ihm, was vorgefallen war. Dieser ließ die Diebe also zu sich rufen und stellte sie zur Rede. Aber sie behaupteten steif und fest, sie wüßten von nichts. Also wurde die einzige Zeugin, die Dumme, gerufen. Sie kam, und als sie sah, daß der Besitzer des Kamels blind war, frug sie ihn, ob ihn auch der starke Regen geblendet habe. »Ach,« sagte der Gefragte, »die ist ja verrückt, der kann man nicht glauben.« Sprach's und jagte sie davon.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 271-272.
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