Die hölzerne Frau.

[100] Früh vor Zeiten pflegten vier Knaben aus vier Dörfern ihre Heerden zu hüten, wobei sie einen bestimmten Platz verabredet hatten. Einstmals hatte der eine von ihnen, der zuerst gekommen war, nachdem er seine Gefährten lange vergebens erwartet hatte, weil sie aber nicht erschienen waren, bei seinem Weggehen aus einem Stück Holz die Figur einer Frau gebildet, sie aufgestellt und sich dann entfernt. Als der zweite von ihnen kam, dachte er: »wenn sie mich sehen, will ich sie lachen machen!« und trug gelbe Farbe auf; dann gieng er ebenfalls weg. Als der dritte kam, blieb er lächelnd stehen, gab ihr noch die charakteristischen Zeichen, und entfernte sich gleichfalls. Endlich erschien der vierte, und nachdem er ihr Leben eingehaucht, ward sie eine schöne reizende Frau zum Heiraten. Indem nun alle vier sich um die Frau stritten, sagt der eine: »ich habe sie zu allererst aus Holz geformt«. Der andere sagt: »ich habe die Farbe aufgetragen«. Der dritte spricht: »ich habe die charakteristischen Zeichen hinzugefügt«. Der vierte sagt: »ich habe sie beseelt«. Da sie nun alle vier so mit einander stritten, fuhr der König fort, welchem von ihnen wird man sie geben müssen? Da versetzten Altar und Rosenkranz: »Naran-Chatun antwortet in der Regel nicht. Von unpersönlichen Gegenständen, wie wir zwei, Altar und Rosenkranz, sind, pflegt sonst auch keine Rede zu erfolgen; allein da der grossmächtige[101] König erschienen ist und bei Erzählung einer Geschichte um die Meinung fragt, wie könnte man da die Antwort schuldig bleiben? Weil mir jedoch davon, dass Naran-Chatun Tag und Nacht Gebete hersagt, der Kopf ganz schwindelig geworden ist, so bin ich, da mein Inneres beständig unaufgeklärt bleibt, nicht im Stande, das richtige zu unterscheiden; indess sollte doch wohl, scheint mir, derjenige, welcher zu allererst die Figur gemacht hat, sie zu erhalten berechtigt sein«. Bei diesen Worten warf Naran-Chatun einen Blick auf ihren Altar und Rosenkranz und sprach also: »Ein persönliches Wesen wie ich fühlte nicht den Muth zu antworten, geschweige denn zwei unpersönliche Gegenstände, wie ihr seid; wenn ihr daher mit eurer so eben gegebenen Antwort das richtige nicht treffet, ist das ein Wunder? Derjenige«, fuhr sie fort, »der die Figur zuerst gemacht hat, ist der Vater: der die Farbe aufgetragen, ist die Mutter; der die charakteristischen Zeichen hinzugefügt hat, ist der Lama; der ihr das Leben einhauchte, wie sollte der nicht ihr Mann sein?« Also hatte sie zur Antwort gegeben.

Darauf sprach der König: »Von einem persönlichen Wesen, der Naran-Chatun, ist eine Antwort erfolgt; von zwei unpersönlichen Gegenständen, dem Altar und Rosenkranz, ist eine Antwort erfolgt. Erzählet nun auch ihr eine Geschichte«. Während Naran-Chatun, ohne irgend einen Laut von sich zu geben, ruhig dasass, sprach der Opferkrug: »Weil mein Inneres bestimmt[102] ist mit Weihwasser angefüllt zu werden, und ich stets in Rauch gehüllt bin, so bin ich nicht im Stande zu erzählen; erzähle daher du, o König, eine Geschichte«. Naran-Chatun warf bei diesen Worten ihrem Opferkrug einen Blick zu und blieb ruhig sitzen. Da erzählte der König folgende Geschichte:

Quelle:
Jülg, Bernhard: Mongolische Märchen. Innsbruck: Verlag der Wagnerschen Universitäts-Buchhandlung, 1868, S. 100-103.
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