Bestrafte Untreue.

[103] Einstmals zogen zwei Verheiratete, Mann und Frau, mit einander am Fusse einer Felswand vorüber. Von der Felswand herab liess sich eine wohlklingende, liebliche Stimme vernehmen; selbst die berittenen Rosse blieben stehen und hörten zu, geschweige denn die Menschen. Die Frau sich danach hinwendend dachte bei sich: »Einem Manne, der mit einer so lieblichen Stimme begabt ist, möchte ich angehören!« Während sie mit diesem Gedanken weiter gieng, kamen sie zu einem reichlich mit Wasser versehenen Brunnen. Da sprach die Frau zu ihrem Manne: »Hole mir doch von diesem Wasser, ich habe Durst«. Der Mann machte Halt; indem er aber zum Wasser nicht hinabreichte und das Gleichgewicht zu behalten suchend sich über den Brunnen lehnte, fasste die Frau, die ebenfalls abgestiegen war, ihn an den beiden Füssen, stiess ihn in das Wasser und tödtete so ihren Mann. Als sie nun jene liebliche Stimme aufsuchte und sich danach umschaute, stellte es sich heraus, dass es die stöhnende Stimme eines am Rücken und Hals mit Wunden und[103] Beulen bedeckten Mannes war, die, an der Felswand wiederhallend, sich so lieblich vernehmen Hess. Die Frau war über diese Entdeckung sehr betroffen. »Weil ich«, sprach sie, »als ich die Stimme eines solchen Leidenden vernahm, meinen edlen Mann getödtet habe, so ist nun meine Begegnung mit diesem unglücklichen Manne die Wiedervergeltung dafür«. Mit diesen Worten nahm sie den kranken Mann auf ihre Schultern, und indem sie sich mühsam mit ihm dahin schleppte, schrumpfte sie allmählich zusammen und magerte ab, bis sie zuletzt starb. Ist das ein gutes oder ein schlechtes Weib? fragte der König. Doch Naran-Chatun gab keinen Laut von sich. Die Lampe aber sprach: »Naran-Chatun hier lässt die Lampe Tag und Nacht ohne Unterlass brennen; weil ich dadurch ganz erschöpft und zusammengeschrumpft bin, so bleibe ich stets ohne die nöthige Sammlung, um in richtiger Unterscheidung zu sprechen. Indess, wenn ich berücksichtige, dass die Frau, nachdem sie ihren biedern Mann getödtet und dafür einen kranken Mann gefunden hat, diesen doch nicht unter dem Vorwande, er sei schlecht, im Stiche liess, so verdient sie als gutes Weib zu gelten«. Nachdem Naran-Chatun bei diesen Worten ihrem Opferkrug und der Lampe einen Blick zugeworfen, liess sie sich also vernehmen: »Ich für meine Person gebe doch, nicht wahr? gewöhnlich keine Antwort, geschweige denn ihr vier unpersönlichen Gegenstände. Wenn ihr daher bei einer einmaligen Antwort das richtige nicht treffet, ist das ein Wunder?[104] Was konntet ihr gutes finden an einer Frau, welche, als sie die an einer Felswand wiederhallende kunstvoll melodische Stimme vernahm, den ihr zu eigen gehörenden Mann tödtete, und, indem sie einen kranken dahinschleppte, nach Erschöpfung ihrer Kräfte zusammenbrach? Ein solches schlechtgesinntes Weib dürfte eine Schimnus sein!«

Nachdem sie also sich hatte vernehmen lassen, sprach der König: »Naran-Chatun, als derjenige, welcher dich zweimal zum Sprechen gebracht hat, darf ich dich jetzt heimführen!« Mit diesen Worten nahm er Naran-Chatun in Empfang, und von Schalû und seinen drei weisen Ministern begleitet machte er, nachdem er die früher erwähnten im Felsengewölbe eingeschlossenen Söhne von 500 Königen befreit hatte, sich auf den Weg in sein Reich. Dort angelangt berief er sein Volk Tai-tsing zu einer Versammlung, begann sofort Glaube und Religion in hohen Ehren zu halten, machte hohe und niedere so glücklich, als man es sich nur vorstellen kann, und sass als der vom Schicksal bestimmte hochheilige König Vikramâditja mit seiner, Milde und Gnade übenden, Gemahlin Ḍâkinî fest auf diesem Thron.

»König Ardschi-Bordschi«, schloss die Figur, »wenn du ein solcher Gesetz und Glaube gleichmässig hochhaltender König sein solltest, dann setze dich auf den Thron; bist du das aber nicht, dann lass es sein!« Und mit diesen Worten verwehrte sie es ihm.

Quelle:
Jülg, Bernhard: Mongolische Märchen. Innsbruck: Verlag der Wagnerschen Universitäts-Buchhandlung, 1868, S. 103-105.
Lizenz:
Kategorien: