IV. Vikramâditja's Gemahlin Tsetsen Büdschiktschi. – Der weise Papagai. – Der falsche Eid.

[105] Der König Ardschi-Bordschi hatte 71 Gemahlinnen. Eine der vornehmsten unter diesen seinen Gemahlinnen forderte er auf. sich vor dem Throne zu verneigen und die Weihe zu empfangen. Als sie dem Throne nahe gekommen war, da rief eine Holzfigur: »O halt! berühre mit deinem Haupte den Thron nicht. Tsetsen Büdschiktschi, vormaleinst die Gemahlin des hochheiligen Königs Vikramâditja, pflegte nie abseits von ihrem Manne unrechten Gedanken nachzuhängen; wenn du eine solche Fürstin sein solltest, dann nahe dich und empfang die Weihe; wenn aber nicht, so lass es sein!« Ausserdem aber erzählte sie noch dazu die Geschichte von den 71 Papagaien.

Früh vor Zeiten war einmal die Gemahlin eines Königs krank geworden und die Ärzte waren nicht im Stande sie zu heilen. Weil aber in Folge des Genusses eines Vogelhirnes nach und nach ihre Krankheit sich zum Bessern gewendet hatte, gedachte der Grosskönig von seinen Unterthanen Vogelgehirn als Abgabe zu erheben. Desshalb berief er einen Vogelsteller zu sich, und als dieser erschien, sprach er zu ihm: »Wenn du mir aus der hiesigen Umgegend 71 Vogelgehirne lieferst, so werde ich dich belohnen; vermagst du sie nicht aufzutreiben, so bestrafe ich dich«. Während der Mann[106] nun in der äussersten Verlegenheit war, fiel ihm ein, dass auf einem Baume immer 71 Papagaien zu übernachten pflegten. »Auf demselben werde ich Netze ausstellen«, dachte er, und so stellte er denn auch in der That auf dem Baume die Netze aus. Allein unter diesen Papagaien befand sich ein besonders kluger; dieser kluge Papagai sprach zu seinen Gefährten also: »Auf diesem Baume hat sich unser Feind niedergelassen; wir wollen auf einem Felsen übernachten«. Nachdem sie vier bis fünf Nächte hier zugebracht hatten, nahm der Mann seine Netze und stellte sie auf dem Felsen aus. Da sprach der kluge Papagai abermals zu seinen Gefährten: »Auf diesem Felsen hat sich wiederum ein Feind niedergelassen; wir wollen uns nach einem andern Platz wenden«. Darüber geriethen die Gefährten in Zorn und versetzten: »Wir sind von unserm ursprünglichen Baum, indem du sagtest, dass daselbst ein Feind sich eingeschlichen habe, auf diesen Felsen gezogen; jetzt sagst du abermals, auf dem Felsen sei ein Feind erschienen; wohin willst du denn gehen? Wenn man die Sache genauer betrachtet, so dürfte im Gegentheil der Feind es auf dich allein abgesehen haben«. Der kluge Papagai versetzte: »Wenn der Feind es auf mich absehen würde, so handelte es sich nur um ein einziges Wesen; allein es hat sich der Feind 71 Köpfen genaht, und so dürfte das Verderben über alle kommen. Wie könnte ich aber trotz meines bestimmten Wissens ganz allein mich davon machen? Auf diese Weise dürfte denn,[107] scheinbar als hätten wir nichts gewusst, das Verderben über uns alle kommen«. Als sie nun ungeachtet dieser Warnung auf dem Felsen weiter übernachteten, blieben sie alle in den Netzen hangen, und während sie so dalagen, sprachen die andern klagend: »Für uns unverständige musst du, der verständige, nun mit büssen!« Dabei aber fragten sie den klugen Papagai: »Da der Besitzer dieser Schlingen mit einem Stocke in der Hand daherkommt, sollte dir nicht noch ein Rettungsmittel einfallen?« Der kluge Papagai sprach: »Was für ein anderes Mittel gäbe es für uns als zu entfliehen! Indess wollen wir alle, scheinbar als wären wir todt, uns auf den Rücken, kopfüber und auf die Seite legen. Denn er wird denken: ›die lebenden muss ich tödten‹, und so könnte er uns alle todt schlagen; wozu sollte er aber die todten noch einmal todt schlagen? er wird uns ja doch wohl nur um unseres Fleisches willen tödten wollen. Nachdem wir einmal in die Hände des Mannes gefallen sind, dürfte es von Vortheil sein ruhig liegen zu bleiben. Betrachtet man diesen unsern Fels genauer, so ist der Zugang sehr eng; wenn er auch durch eine Felsspalte hindurchkriecht und herankommt, so hat er hier keinen Platz; und wenn er uns mit sich fortschleppen will, so wird er, weil er uns nicht erträgt, uns abzählen und wahrscheinlich sogar hinabwerfen; diejenigen von uns, die zuerst hinabgefallen, bleiben wie todt liegen; sobald er aber bei seinem Abzählen 71 gesagt, dann wollen wir alle der Reihe nach uns erheben[108] und davonfliegen«. Auf diesen Rath legten sie sich ruhig hin. Als der Mann herankam und sie sah, sprach er: »O ihr schlimmen, listigen Papagaien, das dürfte euer Tod sein! ihr habt mir durch euer schlaues Hin- und Herwandern ordentlich Kummer verursacht; ich will euch weich klopfen!« Als er hinzutrat und sie auf dem Rücken und kopfüber liegend todt sah, rief er: »Sie sind ja todt! ich will sie sämmtlich, weil der Platz so eng ist, im Abzählen hinabwerfen und dann aufheben«. Und so warf er sie, indem er sie zählte, hinab; ganz zuletzt war noch der kluge Papagai allein übrig. Während er ihn losknüpfte und, schon 71 ausrufend, eben hinabwerfen wollte, fiel der Wetzstein, den er im Gürtel bei sich trug, mit Geräusch hinunter; die andern, in der Meinung, die Zahl 71 sei voll, flogen insgesammt auf und davon und der kluge Papagai blieb allein in den Händen des Mannes zurück. Da sprach der Vogelsteller: »Diese Papagaien haben es mit ihrer Schlauheit seit so langer Zeit bis heute getrieben; diesen allein noch übrig gebliebenen werd' ich mit nach Hause nehmen und tödten, indem ich ihn lebendig sie den und schmoren lasse«. Da sprach der kluge Papagai: »Wenn ich dich vormaleinst grausamer Weise getödtet haben sollte, dann dürfte dies in der That dein Wiedervergeltungs-Tod sein; hat aber eine Feindschaft nicht Statt gefunden, dann werde ich wohl meinerseits einmal an dir Rache nehmen. Während du, wenn du uns tödtetest, von deinem König eine Belohnung[109] zu erhalten vermeintest, haben wir durch eine List unser Leben gerettet. Wenn du mich jetzt auch auf alle Arten tödten wolltest, so ist es doch besser, da einmal diese in Sicherheit entkommenen 70 Papagaien nicht wiederkehren werden, mich an einen reichen Mann zu verkaufen; ich werde bis auf 100 Unzen Silber kommen; um 71 Unzen davon kaufe 71 Vögel und überreiche sie deinem König; wenn du mit den übrigen 29 Unzen dich, Kinder, Frau und deine Verwandten unterhältst, sollte das schlecht sein?« Der Mann hielt diese Bemerkungen für richtig, verkaufte den Papagai und erhielt 100 Unzen dafür.

Da der reiche Käufer des Papagai denselben zu jeglichem Dienste verwendete, und stets unzertrennlich von ihm seine Geschäfte besorgte, so sprach er einst zu seinem Papagai also: »Während ich auf eine Strecke von 71 Tagereisen mich entfernen sollte, muss ich, weil meine Frau leichtfertig ist und an ihre Geliebten mein Eigenthum verschwendet, beständig hier weilen, ohne mich nach auswärts begeben zu können. Wenn du, mein Bruder Papagai, diese deine Schwägerin zu bewachen im Stande wärest, dann möchte ich mich aufmachen, meine Geschäfte besorgen und ruhigen Herzens gehen und kommen«. Auf diese Ansprache versetzte der Papagai: »Ich werde schon im Stande sein, sie bis zu deiner Zurückkunft zu bewachen«. »O vortrefflich, mein Bruder!« sprach der reiche Mann, »dann ist mein Herz ganz ruhig«.[110]

Nach seiner Abreise erhob sieh sofort die Frau, zog ihre Prachtgewänder an, und als sie mit den Worten: »bin ich doch endlich zu mir selbst gekommen!« eben ausgehen wollte, da kam der Papagai heran, ergriff sie bei der Hand, und sprach gefasst: »Halt Muhme! für eine Frau schickt es sich in Abwesenheit ihres Mannes weit weniger auswärts Besuche zu machen, als vielmehr ihren Hausstand fleissig in Ordnung zu halten!« »O du böser Papagai!« rief die Frau, »sieh doch einer, wie er mich zurückhalten und meinen Vergnügungen Hindernisse in den Weg legen will!« Der Papagai sagte: »Dein Mann hat mir aufgetragen, fleissig auf dich Acht zu geben; dich festzuhalten, dazu fehlt mir die Kraft; und wenn ich es dir verbieten wollte, so würdest du auf meine Worte nicht hören. Indessen möchte ich dir doch eine Geschichte erzählen. Willst du sie anhören?« »Gut«, sprach die Frau, indem sie sich setzte, »so erzähle schnell deine Geschichte«. Da begann der Papagai:

Früh vor Zeiten lebte ein König mit Namen Tsoktu Ilagukssan, der eine Tochter Namens Naran Gerel (»Sonnenschein«) hatte. Wer Naran ansah, dem wurden die Augen ausgestochen; dem Manne, der in das Wohnzimmer trat, schlug man beide Beine entzwei: so unerbittlich hart war der König mit seinem Machtgebot. Diese Tochter Naran sprach einst zu ihrem Vater: »Da ich weder Menschen noch Thiere zu sehen Gelegenheit habe, so wird mir die Zeit lang; am fünfzehnten des[111] Monates hätte ich Lust auszugehen und mich etwas umzuschauen«. Der König war damit einverstanden. Er liess überallhin einen Befehl des Inhaltes verbreiten: alle Auslage-Gegenstände solle man öffentlich zur Schau ausstellen, alles Vieh lasse man herein, die Männer und Frauen dagegen sollten Fenster und Thüren schliessen und nicht heraustreten; wenn einer heraustrete, den werde er mit strenger Strafe züchtigen.

Am fünfzehnten des Monates nun fuhr Naran in einem neuen Wagen sitzend, von zahlreichen Mädchen und Frauen rings umgeben, in der Stadt umher und betrachtete sich alle Waaren und Auslage-Gegenstände. Inzwischen hatte ein Minister Namens Ssaran (»Mond«) vom Söller aus, auf den er, in der Absicht die Königstochter zu schauen, emporgestiegen war, dieselbe mit Müsse betrachtet. Diesen gewahrte Naran. Sofort streckte sie einen Finger in die Höhe und machte mit der andern Hand auswärts rings um denselben eine Kreisbewegung; darauf ballte sie die Hand zusammen und liess sie wieder frei; dann legte sie zwei Finger zusammen und deutete damit nach ihrem Hause hin. Ssaran stieg eiligst herab und gieng in seine Wohnung. »Nun«, fragte ihn seine Frau, »hast du die Königstochter gesehen?« »Sie hat mir«, erwiederte er, »böses gedroht; was soll ich anfangen?« »Wie hat sie dir denn gedroht?« fragte die Frau. Da machte er sie mit sämmtlichen Zeichen von Naran bekannt. Die Frau sprach: »Sie hat dir keineswegs gedroht; es dürften vielmehr Zeichen sein, darauf[112] berechnet dich anzulocken. Das Emporstrecken des einen Fingers in die Höhe bedeutet, dass sich in der Nähe der Wohnung ein einzelner Baum befindet. Dass sie die Hand auswärts um den Finger einen Kreis machen liess, damit dürfte eine Ringmauer gemeint sein. Dass sie die Hand zusammenballte und dann wieder frei liess, damit dürfte sie angedeutet haben: ›komm in den Blumengarten‹. Das Zusammenlegen der beiden Finger dürfte heissen: ›mit dir möcht' ich eine Zusammenkunft haben‹. Geh nur hin«. Der Minister erwiederte: »Ist denn nicht das Verbot des Königs Tsoktu Ilagukssan so streng?« worauf die Frau sagte: »Wenn die Fürstentochter einladet, pflegt man da nicht zu gehen? Geh; nimm diesen Edelstein und mache dich auf den Weg; für einen Mann ist ein Edelstein von Nutzen«. Mit diesen Worten schickte sie ihn hin.

Ssaran machte sich auf, begab sich in den Blumengarten und setzte sich an den Fuss des Baumes. Inzwischen war auch Naran herausgetreten, und die beiden überliessen sich den Freuden der Liebe und ruhten schlummernd bis Sonnenaufgang. Da erschien ein Beamter, der die Aufsicht über den Garten führte, mit hundert Bewaffneten, erkannte die Königstochter Naran und den Minister Ssaran, ergriff sie beide, führte sie ab und setzte sie ins Gefängniss. Bei diesem Anlass sprach die Königstochter: »Ich sollte eigentlich zu meinem Vater, dem Könige, gehen«. Doch der Beamte, der sie verhaftet, versetzte: »Wie viele Menschen, die[113] dieses Mädchen geschaut haben, sind nicht schon umgekommen! Jetzt ist Naran Gerel dem Tode nahe. Dem Verderben vieler Unterthanen setze ich auf diese Weise ein Ziel. Den Leuten, die dieses Mädchen geschaut, musste man die Augen ausstechen; den Leuten, die ihr nahe gekommen, die Füsse entzwei schlagen!« Und mit diesen Worten behielt er sie in Gewahrsam.

Indessen fragte Naran Gerel den Ssaran, ob er irgend ein Rettungsmittel kenne; aber der Minister erwiederte, dass es keinen Ausweg gebe. »Wie hast du denn«, fragte sie weiter, »meine Zeichen erkannt?« »Ich«, versetzte er, »habe sie nicht erkannt; meine Frau hat sie erkannt«. »Da muss wohl deine Frau sehr verständig sein«, sprach sie; »hat sie dir sonst etwas mitgegeben?« »Nichts«, sagte er, »nur diesen Edelstein hier hat sie mir gegeben«. Naran nahm den Edelstein, und indem sie durch das Fenster des Gefängnisses schaute, rief sie: »Ihr Leute, die ihr uns bewacht, nehme einer von euch diesen Edelstein; für Menschen, die sterben sollen, ist ein Edelstein unnütz; sollte er nicht euch lebenden einmal dienlich sein? Wer ihn aber in Empfang nimmt, der gehe hin, klopfe dreimal an das Thor des Ministers Ssaran, umwandle dasselbe dreimal und komme dann zurück«. Ein Mann nahm den Edelstein und kam, nachdem er dreimal klopfend die Thüre des Ministers Ssaran umwandelt hatte, wieder zurück. Da Ssarans Gemahlin die Verhaftung ihres Mannes hieraus erkannt hatte, zog sie[114] ihre verschiedenen Prachtgewänder an, setzte einen grossen schwarzen Hut auf, nahm ein kostbares Körbchen, in welches sie allerlei Früchte füllte, und schlenderte an den Thüren des die Verbrecher in Gewahrsam haltenden Gefängnisshofes vorüber, bis sie zu der Thüre gelangte, wo ihr Mann eingeschlossen war. Da sprach sie zu dem wachehabenden Aufsichtsbeamten: »Da mein Mann heftig erkrankt ist, so lautet der Ärzte Ausspruch dahin, dass es erspriesslich wäre, wenn ich unter diese Unglücklichen hier Speise austheilen würde; ich möchte desshalb hier eintreten und ihnen diese meine Speise reichen«. Auf diese Worte versetzte der Aufsichtsbeamte: »Bei einem Weibe sind viele Reden unnöthig; tritt rasch ein und wenn du ausgetheilt, so komm wieder heraus«. Nachdem die Frau eingetreten, setzte sie der Naran Gerel ihren eigenen Hut auf und liess sie auf diese Weise entkommen; sie selbst aber blieb bei ihrem Manne ruhig abwartend zurück.

Inzwischen war der König erschienen und als ihm auf seine Fragen der Beamte die von ihm vorgenommene Verhaftung der Naran Gerel und des Ministers Ssaran meldete, da gerieth der Grosskönig in Zorn, und das Schwert ziehend befahl er, die beiden auf der Stelle vor ihn zu führen. Man führte sie vor und als der König die beiden erblickte, rief er: »Wo ist Naran Gerel?« Die Frau sprach: »Wir beide wissen es nicht«. »Warum seid ihr denn verhaftet worden?« fragte der König. Der Minister antwortete: »Meine Frau hier[115] hatte Lust den königlichen Blumengarten zu besuchen; indem ich sie hinführte, um ihn ihr zu zeigen, haben wir die Nacht da zugebracht; einer anderen Schuld sind wir uns nicht bewusst«. Der König sprach: »Wo auch immer der Mann und die Frau die Nacht zugebracht haben, dafür sind sie nicht strafwürdig; wozu war es nöthig, sie desshalb gefangen zu setzen?« Damit überliess er den commandirenden Aufsichtsbeamten sammt den 100 Mann dem Minister Ssaran auf Gnade und Ungnade. Da wagte der Aufsichtsbeamte dem Könige folgende Vorstellung zu machen: »Bei der unlängst erfolgten Verhaftung war es in der That deine Tochter Naran; den Mann aber kenne ich nicht im geringsten. Es bleibt mir freilich nichts anderes übrig als der Tod; doch lass deine Tochter Naran zuvor einen Eid über Gerstenkörnern leisten, dann will ich sterben«. Der König willigte ein und befahl seiner Tochter Naran den Eid über Gerstenkörnern zu schwören. Bei einer solchen Gelegenheit pflegt alles, was Gerstenkorn heisst, sobald ein Mensch schwört, der vorher böses gethan hat, auf eine falsche Aussage hin mächtig in die Höhe zu schiessen, bei einer wahren Aussage dagegen wächst sicherlich nichts. Naran sprach zu ihrem Vater: »Warum soll ich, deine einzige Tochter, schwören? Mag ich nun aber rein oder unrein sein, vor einer zahlreichen Menge will ich den Eid leisten«. Der König gieng darauf ein und liess mittelst einer Kundmachung eine allgemeine Versammlung ausschreiben.[116]

Als die Gemahlin des Ministers Ssaran dies erfahren, bestrich sie ihren Mann am ganzen Leibe mit schwarzer Farbe und, indem sie auf diese Weise ihn ganz schwarz aussehend machte, gab sie ihm folgende Anweisung: »Zur Stunde wann die Königstochter Naran sich daran macht, bei der Führung ihres Processes vermittelst Gerstenkörner den Eid zu leisten, da suche, das eine Auge halb schliessend, auf einem Fuss hinkend, blindlings und blödsinnig lachend, eine Krücke bei dir führend, dich unter allerlei bösartigen Possen in der zahlreich versammelten Menge umherzutreiben; bei dieser Gelegenheit wird vielleicht die Königstochter Naran für sich irgend einen Ausweg finden; den königlichen Unterthanen suche ihr Essen wegzunehmen«. Mit solchen Anweisungen entliess sie ihn. Als er nun diesen Vorschriften gemäss auftrat, sprach der König: »Entfernt doch dieses widrige, abscheuliche Wesen, das man nicht anschauen kann!« Während ihn nun die Minister, den Abscheu gegen ihn noch mehr erregend, zurückstiessen, erhob sich die Königstochter Naran und sprach zu ihrem Vater also: »Während ich unschuldig bin, hat mich dieser Aufsichtsbeamte verleumdet. Doch wäre es für eine als Jungfrau sich ausgebende Dirne, die über diesen Gerstenkörnern hier schwören soll, unschicklich, verstohlene Liebe gänzlich abzuschwören. Unter diesen Umständen will ich den Eid leisten, indem ich dabei auf irgend ein Mannsbild hinweise. Wollte ich nun auf einen schönen Mann hinweisen und bei ihm schwören,[117] so würde ich neuerdings wieder mit diesem einen Scherz treiben. Ich bezeichne euch daher diesen bresthaften Menschen hier, bei ihm will ich schwören; sprecht nur eure Zustimmung dazu aus«. Da riefen die sämmtlichen Minister: »Wie kann die Königstochter auf ein so hässliches, widriges Geschöpf hinweisen und bei ihm schwören?« Doch Naran antwortete: »Bei dem hat's keine Gefahr; sollte ich denn mit dem wirklich in einem Liebesverhältniss gestanden haben? und was hat es auf sich, mit inhaltsleerem Munde ein Geständniss abzulegen?« Dabei erhob sie sich und begann also: »Von klein an bis auf heute habe ich meines königlichen Vaters Namen nimmermehr befleckt; der einzige Mann, mit dem ich ein Liebesverhältniss gehabt, ist dieser krüppelhafte Mensch hier; mit einem andern Menschen ausser ihm habe ich nimmer männlichen Umgang gepflogen«. In solchen Worten leistete sie ihren Eid. Da sie ihrerseits die Wahrheit gesprochen, so erhoben sich die Körner auch nicht im geringsten. Alle Anwesenden mit dem König an der Spitze glaubten jetzt an die Unschuld der Königstochter Naran; den Aufsichtsbeamten liess der König hinrichten; den Minister Ssaran liess er straflos ausgehen.

»Diese Frau des Ministers Ssaran vermochte die Zukunft vorauszusehen«, sprach der Papagai am Schlusse seiner Erzählung. »Wenn du, Muhme, deinem Manne, gleich der Frau des Ministers Ssaran, treu sein solltest, so magst du zum Nachbar gehen; ist das aber nicht[118] der Fall, dann dürfte es kaum angehen, den Nachbar zu besuchen«. Nach diesen Worten des Papagai gab die Frau ihren beabsichtigten Besuch beim Nachbar auf.

So hatte die Figur erzählt. »Wenn deine Gemahlin, o König Ardschi-Bordschi«, fuhr die Holzfigur fort, »von Tsetsen Büdschiktschi, der Gemahlin des erhabenen Königs Vikramâditja, ganz abgesehen, auch nur eine der Frau dieses Ministers gleiche Fürstin ist, so mag sie sich vor diesem Throne verneigen; wenn aber nicht, so geht es nicht an sich zu verneigen. Kehr' um!« So sprach sie und wies sie zurück.

Quelle:
Jülg, Bernhard: Mongolische Märchen. Innsbruck: Verlag der Wagnerschen Universitäts-Buchhandlung, 1868, S. 105-119.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Strindberg, August Johan

Gespenstersonate

Gespenstersonate

Kammerspiel in drei Akten. Der Student Arkenholz und der Greis Hummel nehmen an den Gespenstersoirees eines Oberst teil und werden Zeuge und Protagonist brisanter Enthüllungen. Strindberg setzt die verzerrten Traumdimensionen seiner Figuren in steten Konflikt mit szenisch realen Bildern. Fließende Übergänge vom alltäglich Trivialem in absurde Traumebenen entlarven Fiktionen des bürgerlich-aristokratischen Milieus.

40 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon