[23] 8. Woher der Frost kommt

Die Meamei oder Plejaden lebten einst auf der Erde. Es waren sieben Schwestern und wegen ihrer Schönheit berühmt. Sie hatten langes Haar, das bis zu den Hüften herabfiel, und ihre Körper waren mit Eiszäpfchen besät. Ihre Eltern lebten irgendwo weit in den Bergen und blieben dort, sie wanderten nicht umher, wie es die Töchter zu tun pflegten. Wenn die Schwestern auf die Jagd gingen, schlossen sie sich anderen Stämmen nicht an, obschon viele von Zeit zu Zeit versuchten, ihre Freundschaft zu erwerben.

[23] Besonders eine Schar junger Leute war von ihrer Schönheit so hingerissen, daß sie es gern gesehen hätte, wenn die Mädchen bei ihnen geblieben und ihre Frauen geworden wären. Die jungen Leute hießen die Berai-Berai und folgten den Meamei überall hin. Sie paßten auf, wo sie lagerten, und ließen alsdann stets Geschenke für sie da.

Die Berai-Berai waren sehr geschickt im Auffinden von Bienennestern. Sie fingen sich zuerst eine Biene und befestigten dann irgend etwas Weißes, etwa eine weiße Feder, mit Gummi zwischen den hinteren Beinchen. Dann ließen sie die Biene fliegen und folgten ihr zum Nest. Den gefundenen Honig taten sie in Körbe und setzten sie im Lager der Meamei hin, die wohl den Honig aßen, aber vom Heiraten nichts wissen wollten.

Doch eines Tages stahl sich der alte Wurunnah zwei von den Mädchen und fing sie mit Hinterlist ein. Er versuchte die Eiszäpfchen von ihnen loszuwärmen, doch löschte er dabei nur das Feuer aus.

Nachdem sie eine Zeitlang in unfreiwilliger Gefangenschaft gewesen waren, wurden die beiden Mädchen in den Himmel hinaufgehoben. Hier fanden sie ihre fünf Schwestern wieder und blieben seitdem immer bei ihnen. Doch funkelten sie nicht mehr so prächtig wie die andern fünf; Wurunnahs Feuer hatte ihren Glanz vermindert.

Als die Berai-Berai herausbekamen, daß die Meamei für immer von der Erde verschwunden waren, waren sie untröstlich. Man bot ihnen Mädchen aus ihrem eigenen Stamm an; sie wollten jedoch nur die Meamei, und sonst niemand haben. Und wie sie allen Trost zurückwiesen, wollten sie auch nichts essen und trinken; sie siechten dahin und starben. Das tat den Geistern leid, die sich doch über ihre Beharrlichkeit und Treue gefreut hatten, und so wiesen sie ihnen einen Platz im Himmel an, den sie noch heute innehaben. Wir nennen sie den Gürtel und das Schwert des Orion, den Dens sind die Sterne jedoch als die Berai-Berai bekannt.

[24] Die Dens behaupten, daß die Berai-Berai auch jetzt noch am Tage auf die Bienenjagd gehen und nachts ihre Tänze abhalten, wozu die Meamei singen. Obgleich die Meamei ihr Lager in einiger Entfernung von den Berai-Berai haben, sind sie doch nicht so weit davon entfernt, daß ihr Gesang dort nicht vernommen werden könnte. Die Dens behaupten auch, daß die Meamei als ein Vorbild für die Frauen auf der Erde leuchten.

Zur Erinnerung an ihr irdisches Dasein brechen die Meamei einmal im Jahre einige Eiszäpfchen von sich ab und werfen sie hinunter. Wenn die Dens dann am Morgen erwachen und überall Eis erblicken, sagen sie: »Die Meamei haben uns nicht vergessen. Sie haben uns Eis herabgeworfen. Nun wollen wir ihnen zeigen, daß wir sie auch nicht vergessen haben.«

Dann nehmen sie ein Stückchen Eis und halten es an die Nasenscheidewand der Kinder, bei denen sie noch nicht durchbohrt ist. Sobald die Nasenscheidewand infolge der Kälte unempfindlich geworden ist, wird sie durchbohrt und ein Strohhalm oder ein Knochen hindurchgezogen. »Nun,« sagen die Dens, »können die Kinder wie die Meamei singen.«

Ein Verwandter der Meamei schaute gerade zur Erde hinab, als die beiden Schwestern zum Himmel emporgetragen wurden. Als er nun sah, wie der alte Kerl da unten wütend und schimpfend herumtobte und ihnen befahl, wieder herabzukommen, da machte ihm der Verdruß des Wurunnah großen Spaß, und weil er sich über die Flucht der beiden Mädchen so freute, mußte er laut loslachen. Seitdem lacht er immer; den Dens ist er als Ghindamaylännah, der lachende Stern, und uns als Venus bekannt.

Wenn es im Winter donnert, sagen die Dens: »Nun baden die Meamei wieder.« Das Geräusch entsteht, wenn sie beim Bubahlarmay-Spiel hintereinander ins Wasser springen; wer dann den besten Knall erzielt, hat gewonnen; auch bei uns ist das Spiel beliebt. Sobald sie das Geräusch [25] des Bubahlarmay-Spiels der Meamei hören, sagen die Dens auch: »Nun wird es bald regnen; die Meamei werden Wasser herunterspritzen. In drei Tagen wird er kommen.«

Quelle:
Hambruch, Paul: Südseemärchen. Jena: Eugen Diederich, 1916, S. 23-26.
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