[48] 14. Die Sonne

Es war einmal ein Mann, der mochte die Sonne nicht leiden. »Könnte ich ihr doch mal an den Kragen!« rief er, »jetzt kommt sie schon wieder und hindert mich, auf die Pandanuspalme zu steigen, die voll reifer Früchte hängt. Sie sitzt schon dort oben, und ich kann nicht hinauf. Aber warte nur, ich werde dich wohl noch kriegen!«

Er machte sich eine große, feste Schlinge und wollte die Sonne damit einfangen. Mitten in der Nacht stand er auf und [48] begab sich zur Pandanuspalme, um dort die Schlinge auszuspannen. Er tat es gerade an der Stelle, wo die Sonne heraufzukommen pflegte. Dann stellte er sich unten an der Palme auf und hielt das Ende der Schnur in der Hand. Sowie er nun sah, daß die Sonne heraufkam, zog er schnell die Schlinge zu und die Gefangene an den Füßen zu sich auf den Boden herab.

Vergebens flehte die Sonne: »Bruder! Weshalb hast du meinen Fuß in der Schlinge gefangen? Willst du mich umbringen?«

»Jawohl,« erwiderte darauf der Mann, »du sollst sterben!« »Aber wo willst du dich denn verstecken?« fragte die Sonne, »wenn du mich umbringst, wird eine andere Sonne mich rächen.«

Der Mann antwortete darauf: »Nun, was könnte mir denn etwa geschehen?« Dann schlug er auf die Sonne ein, die laut um Hilfe rief. »Wo bleibt nur mein Bruder?« schrie sie.

»Ja, wo bleibt denn dein Bruder?« spottete der Mann, »heute ist es um dich geschehen. Warum hast du mir die Pandanuspalme fortgenommen? Jetzt erhältst du deine Strafe.«

Die Sonne sagte: »Und wenn du mich nun tötest, glaubst du, daß du nicht ebenfalls umkommen wirst?«

Als sie verschied, waren ihre letzten Worte: »Nun gut! Vermagst du, dich in stockfinstere Nacht zu hüllen, so wirst du leben bleiben; dann wird keine andere Sonne dich finden können.«

Bald darauf erschien eine andere Sonne und suchte den Mörder. Sie setzte alle Bäume in Brand, um ihn zu finden. Auch der Boden glühte vor Hitze.

Es nutzte dem verfolgten Manne nichts, sich in ein Erdloch zu vergraben. Die Sonne sandte ihre Strahlen ohne Unterlaß auf ihn nieder. Ebenso war es für ihn vergeblich, im Meerwasser Zuflucht zu suchen. Die Sonne brannte ihm auch da auf den Leib.

Als er sich nun flach auf den Bauch ins Wasser legte, nutzte ihm das auch nichts; auch dort fanden ihn die Sonnenstrahlen. [49] Hierauf suchte er hinter Bäumen Schutz. Die Sonne setzte die Bäume in Brand und vernichtete sie, so daß der Mann frei und schutzlos dastand. Als er nun im Kreise und im Zickzack der Sonne auszuweichen suchte, brannte sie ihm so kräftig auf den Leib, als ob er mit einer Fackel angesengt würde. Schließlich glühte die Sonne so auf seinen Schädel herab, daß er auseinandersprang; und der Mann starb. Dann fraß ihm die Sonne mit ihrem Feuer die beiden Beine ab, weil er damit auf der anderen gefangenen Sonne herumgetrampelt hatte. Auch die Arme brannte sie ihm weg, weil er damit die Schlinge zugezogen hatte. Auf die Brüder des Mannes sandte die Sonne ohne Unterlaß ihre sengenden Strahlen herab, bis sie tot waren; und ebenso machte sie es mit seinen Schwestern. Alle wurden getötet, und die ermordete Sonne war gerächt. So kam jene Verwünschung auf: »Die Sonne soll dir auf den Schädel brennen, daß er zerspringt!«

Quelle:
Hambruch, Paul: Südseemärchen. Jena: Eugen Diederich, 1916, S. 48-50.
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