[315] 71. Tawhaki

Tawhaki war der Sohn von Hema und Urutonga; er hatte auch einen jüngeren Bruder, der hieß Karihi. Tawhaki hatte sich Hine-piripiri zur Frau genommen; eines Tages zog er mit seinen Schwägern zum Fischfang auf ein flaches Riff hinaus, das sich weit in die See erstreckte. Er hatte vier Schwäger; als zwei von ihnen müde waren und nicht mehr fischen wollten, gingen sie ins Dorf zurück; und er schloß sich ihnen an. Doch als sie nahe beim Dorfe waren, fielen sie über ihn her, schlugen ihn und begruben ihn nachher für tot. Dann setzten sie den Weg zum Dorfe weiter fort, und als sie da anlangten, fragte ihre jüngere Schwester: »Na, wo habt ihr euren Schwager?« Sie antworteten: »Die fischen noch.« Die junge Frau wartete, bis ihre anderen beiden Brüder zurückkamen; und als sie ins Dorf kamen, wurden sie auch von der Schwester befragt: »Wo habt ihr euren Schwager?« Die beiden zuletzt gekommenen antworteten ihr: »Was? die [315] anderen sind längst zusammen nach Hause gegangen.« Da ahnte der jungen Frau, daß sie ihren Mann erschlagen hatten, und sie eilte weg, um ihn zu suchen; sie fand auch die Stelle, wo sie ihn begraben hatten, und als sie ihn untersuchte, merkte sie, daß er nur bewußtlos, aber nicht tot war; unter großen Beschwerden lud sie ihn sich auf den Rücken und brachte ihn nach Hause; dort wusch sie ihm sorgfältig die Wunden und stillte das Blut.

Als es Tawhaki ein wenig besser ging, sagte er zu seiner Frau: »Hol' etwas Holz und mache mir Feuer an«; und als die Frau es tun wollte, fuhr er fort: »Wenn du hier in der Nähe irgendeinen hohen Baum erblickst, dann fäll' ihn und mach' damit Feuer an.« Die Frau ging fort; und als sie einen Baum gefunden hatte, wie ihr Gatte ihn haben wollte, fällte sie ihn, lud ihn auf die Schulter und trug ihn heim; als sie ins Haus kam, steckte sie den ganzen Baum, so wie er war, ins Feuer; sie zerkleinerte ihn nicht; daher nannte sie ihren Erstgeborenen auch Wahie-roa, den langen Feuerbaum, denn Tawhaki hatte ihr befohlen, diesen Baum nach Hause zu bringen und ihr Kind danach zu benennen, damit es immer wieder an die Pflicht erinnert würde, die dem Vater angetane Unbill zu rächen.

Sobald Tawhaki wieder genesen war, verließ er den Ort, wo die treulosen Schwäger lebten; mit all' seinen Kriegern und ihren Familien zog er fort und baute sich hoch oben auf dem Gipfel eines Berges ein festes Dorf, wo er sich leicht schützen konnte; und dort wohnte er fürderhin. Darauf rief er alle Götter und Ahnen um Rache an; die Fluten des Himmels fielen herab, die Erde wurde von den Wassern überschwemmt und alle Menschen starben; »die Überschwemmung von Mata-aho« heißt die Sinflut, und das ganze Menschengeschlecht wurde damals ausgetilgt.

Nach dieser Tat zog Tawhaki mit seinem jüngeren Bruder aus, um den Tod des Vaters zu rächen. Ein anderer Stamm hatte einst den Vater von Tawhaki fortgeschleppt und erschlagen; es war der Stamm der Ponaturi gewesen. Die [316] wohnten eigentlich unterm Wasser; aber sie besaßen auf dem Lande ebenfalls ein festes Haus, wo sie während der Nacht schliefen; dies große Haus hieß »Manawa-Tane«.

Die Ponaturi hatten den Vater des Tawhaki erschlagen und den Körper weggeschleppt; seine Frau hatten sie aber lebendig mitgenommen und hielten sie als Gefangene. Tawhaki machte sich also mit seinem jüngeren Bruder auf den Weg, um sie zu rächen. Schließlich gelangten sie an einen Ort, von wo aus man das Manawa-Tane sehen konnte. Als sie da anlangten, war nur die Mutter anwesend, sie saß neben der Tür; doch die Gebeine des Vaters hingen im Hause, hoch oben unterm Dach. Die Ponaturi hielten sich in ihrem Lande unterm Wasser auf; sie kehrten erst gegen Einbruch der Nacht in ihr Haus nach Manawa-Tane zurück.

Als sich nun Tawhaki und sein Bruder Karihi dem Hause näherten und noch eine gute Strecke entfernt waren, da begann Tawhaki mit seinen Beschwörungen; die Gebeine seines Vaters Hema verspürten ihre Macht; vor Freude, daß sie Tawhakis Beschwörungen vernahmen, rasselten sie dort oben unterm Dach laut aneinander, denn nun wußten sie, die Stunde der Rache war da. Als die Brüder näher zogen, hörte ihre Mutter Urutonga die Stimme des Tawhaki; sie weinte vor Freude, wie ihre Kinder erschienen, die, Zaubersprüche murmelnd, immer näher kamen. Als sie schließlich beim Hause anlangten, weinten sie, weinten sie über ihre Mutter, die alte Urutonga.

Das Weinen war beendet; da sprach die Mutter zu ihnen: »Kinder, eilt schnell zurück, woher ihr kamt, sonst werdet ihr sicherlich umgebracht. Die Leute sind hier wild und grausam.« Karihi antwortete: »Wie tief muß die Sonne stehen, wenn die, von denen du sprichst, wiederkommen?« Sie sagte: »Wenn die Sonne ins Meer sinkt, erscheinen sie hier.« Karihi fragte weiter: »Weshalb haben sie dich denn leben lassen?« Sie antwortete: »Ich blieb am Leben, weil ich aufpassen muß, wenn die Morgendämmerung kommt. Deshalb sitze ich hier an der Tür und halte Wache; und die [317] Leute nennen mich deshalb ›Tatau‹ oder ›die Tür‹; und die ganze Nacht hindurch riefen sie: ›Hallo, Tatau, bist du da? Kommt die Dämmerung schon?‹ Dann antworte ich: ›Nein, nein, es ist noch stockfinstere Nacht, es ist noch Nacht, es ist Nacht. Schlaft weiter, schlaft!‹«

Karihi sagte zur Mutter: »Können wir uns hier nicht irgendwo verstecken?« Die Mutter antwortete: »Kehrt lieber um; ihr könnt euch hier nicht verbergen; euer Geruch verrät euch.« – »Und doch, Mutter,« sprach wieder Karihi, »wollen wir uns im dicken Dachstroh verstecken.« Aber die Mutter entgegnete: »Das ist unnütz, ihr könnt euch dort nicht verbergen.«

Tawhaki saß die Zeit über schweigend und ganz still da; doch Karihi sagte: »Wir wollen uns hier verstecken, wir kennen Zaubersprüche, die uns unsichtbar machen.«

Nun war die Mutter einverstanden, daß sie dablieben und versuchten, den Tod ihres Vaters zu rächen. Sie kletterten an dem Stützpfosten des Hauses in die Höhe und schnitten sich große Löcher in die Schilfbedachung; dort krochen sie hinein und bedeckten sich wieder mit Schilf. Ihre Mutter rief ihnen zu: »Wenn es Morgen wird, kommt wieder herunter und verschließt die kleinste Ritze im Hause, so daß kein einziger Lichtstrahl hineindringen kann.« – Bei kleinem ging der Tag zur Neige, und die Sonne sank unter den Horizont hinab. Da verließ der seltsame Stamm sein feuchtes Reich und stieg an Land; nach altem Brauch wurde einer vorausgeschickt, der den Weg sorgfältig untersuchen mußte, ob nicht vielleicht doch irgendein böser Feind ihnen hier oder im Hause auflauerte. Als der Bote zur Haustür kam, verspürte er den Geruch von Tawhaki und Karihi; er hob die Nase in die Höhe und schnupperte in allen Ecken des Hauses umher. Er wandte sich um und war schon nahe daran, die beiden zu entdecken, da stürzten die anderen ins Haus hinein – sie hatten sich ja seit langem in Sicherheit gewiegt –, sie kamen zu Tausenden, und in der Menge, im Gedränge verlor sich der Geruch der Fremden ganz und [318] gar. Die Ponaturi brachten sich insgesamt im Hause unter, und als jeder einen Platz gefunden hatte, legten sie sich zum Schlafe nieder.

Gegen Mitternacht stahlen sich Tawhaki und Karihi vom Hause herab; draußen begegneten sie der Mutter, die auch von der Tür fortgeschlichen war; sie unterhielten sich im Flüsterton. Karihi fragte die Mutter: »Wie können wir die Schläfer am besten umbringen?« Die Mutter antwortete: »Überlaßt das der Sonne, deren Strahlen töten sie.« Als sie das gesagt hatte, kroch Tatau wieder ins Haus; mit einem Male rief ein alter Ponaturi-Mann: »Hallo, Tatau, Tatau! Bist du da? Dämmert es schon?« Sie antwortete: »Nein, nein, es ist noch stockfinstere Nacht, es ist noch Nacht, es ist Nacht; schlaf weiter, schlaf ruhig weiter!«

Als die Dämmerung nahe war, flüsterte Tatau ihren Kindern zu, die draußen vor der Tür saßen: »Schaut, daß jede Ritze, jeder Spalt in der Tür und im Fenster verstopft ist, damit kein Lichtstrahl ins Haus dringt.«

Und wieder rief ein alter Ponaturi-Mann: »Hallo, Tatau! Dämmert es denn noch nicht?« Aber sie antwortete: »Nein, nein, es ist noch stockfinstere Nacht, es ist noch Nacht, es ist Nacht; schlaf weiter, schlaf ruhig weiter!« Zweimal hatte Tatau ihnen also dasselbe gesagt. Schließlich kam die Dämmerung – endlich ging die Sonne strahlend über der Erde auf und stieg hoch zum Himmel empor; und der alte Mann rief wieder: »Hallo, Tatau! Dämmert es denn noch nicht?« Da antwortete sie: »Ja!« und ihren Kindern rief sie zu: »Schnell, zieht das Zeug heraus, womit ihr die Ritzen und Spalten verstopft habt.« Das taten sie; und nun flutete das helle Sonnenlicht ins Haus hinein, und alle Ponaturi kamen im Lichtmeer um; sie starben nicht von Menschenhand, sondern verdorrten in der Sonne.

Als die Ponaturi alle tot waren, holten Tawhaki und Karihi die Gebeine ihres Vaters behutsam unterm Dach hervor und brannten das Haus mit all den Erschlagenen nieder; [319] darauf kehrten sie wieder mit ihrer Mutter heim und nahmen auch die Gebeine des Vaters mit.

Der Ruhm von Tawhaki, wie er die Ponaturi vernichtete, und seiner großen mannhaften Schönheit drang auch zu den Ohren eines schönen Mädchens, das zu den Himmelsleuten gehörte und hoch oben über den Wolken wohnte; und eines Abends kam es vom Himmel herab und besuchte Tawhaki; es wollte sich überzeugen, ob die Erzählungen wahr waren. Es fand ihn schlafend; nachdem es ihn eine Zeitlang angeschaut hatte, stahl es sich an seine Seite und legte sich bei ihm hin. Er wachte auf, dachte jedoch, daß es ein Mädchen aus dieser Welt war, und schlief wieder ein; doch ehe noch der Morgen graute, erhob sich das Mädchen und stieg wieder zum Himmel empor. Später erwachte auch Tawhaki; er tastete das Schlaflager mit beiden Händen ab, aber das Mädchen fand er nicht mehr.

Seit diesem Morgen stahl sich Tango-tango, so hieß das Mädchen aus dem Himmel, jede Nacht heimlich an die Seite von Tawhaki; schließlich merkte es, daß es mit einem Kinde ging, das nach der Geburt den Namen Arahuta erhielt; in seiner hingebenden Liebe für Tawhaki enthüllte es ihm nun sein Geheimnis; es blieb fortan bei ihm und verließ seinetwegen den Himmel; es entdeckte ihm, daß seine Geliebte zu den Himmlischen gehörte, die über den Wolken wohnten.

Eines Tages sagte das Mädchen aus dem Himmel, seine zweite Frau, zu ihm: »Du, Tawhaki, wenn nun bald unser Kindchen geboren wird und es ein Sohn ist, dann will ich ihn waschen, bevor du ihn weihst; wenn es aber ein Mädchen ist, dann sollst du es waschen.« Als die Zeit um war, bekam Tango-tango ein kleines Mädchen; doch ehe Tawhaki es weihte, trug er es an eine Quelle, um es zu waschen; dabei hielt er es aber weit von sich ab und sagte nur: »Brr! das kleine Ding riecht ja ganz übel.« Als Tango-tango hörte, was er von ihrem Kindchen redete, seufzte und weinte sie bitterlich; sie erhob sich von ihrem Lager, nahm das Kind auf den Arm und stieg zum Himmel hinauf. Eine kurze [320] Weile blieb sie noch oben auf der prächtig geschnitzten Krönungsfigur des Stützbalkens im Hause stehen, und als Tawhaki herbeieilte und hochsprang, um seine junge Frau festzuhalten, verfehlte er sie; nun bat er flehentlich: »Mutter meines Kindchens, komm doch wieder zu mir zurück!« Doch sie rief zu ihm hinunter: »Nein, nein, ich kehre nie wieder zu dir zurück.«

Tawhaki rief noch einmal: »Bitte, laß mir doch etwas zur Erinnerung zurück!« Da rief sie ihm noch einmal zu: »Behalte die Worte, die ich dir jetzt zum Abschied sage: Halte dich niemals an den Wurzeln fest, die locker in der Luft hin und her schwingen; aber halte dich an Wurzeln fest, die aus der Höhe herabhängen und doch fest im Boden haften.« Damit fuhr sie hoch in die Lüfte empor und entschwand bald seinen Blicken.

Tawhaki blieb tief bekümmert zurück; der Schmerz um den Verlust seiner Frau und seines Kindchens zerriß ihm das Herz. Ein Monat war seit ihrem Weggang verstrichen; Tawhaki konnte die Qualen nicht länger aushalten; er rief seinen Bruder Karihi herbei und sagte: »Bruder, wollen wir ausziehen und mein kleines Mädchen suchen?« Karihi stimmte zu und antwortete: »Ja, wir wollen es tun.« Da zogen sie los und nahmen zwei Diener als Begleiter auf die Reise mit.

Als sie auf die Straße kamen, die sie nun entlang wandern wollten, sagte Tawhaki zu den beiden Dienern: »Ihr seid nur niedere, unsaubere und nicht geweihte Leute, ihr müßt euch in acht nehmen, wenn wir an der Feste Tongameha vorbeikommen, ihr dürft dort nicht emporsehen, sie ist bezaubert, und wenn ihr es doch tut, ergeht es euch schlecht.« Sie zogen des Weges weiter, und als sie an den Ort kamen, den Tawhaki genannt hatte, blickte einer von den Dienern auf die Feste; und sogleich wurde ihm durch die Zauberkräfte von Tongameha ein Auge aus dem Kopf gerissen, und er starb. Tawhaki und Karihi wanderten weiter, und nur ein Diener begleitete die beiden. Schließlich kamen sie an [321] das Ende der Welt, wo lange Seile vom Himmel auf die Erde herabhingen; da trafen sie eine alte, blinde Frau, nammens Mata-kere-po; die war die Stammutter ihres Geschlechtes. Sie mußte auf die Seile aufpassen; sie saß dort, wo sie die Erde berührten und hatte das Ende von einem in der Hand.

Die alte Frau war gerade dabei, einige Taroknollen abzuzählen, die sie kochen wollte. Und weil sie blind war, bemerkte sie die beiden Fremden nicht, die sich ihr leise und schweigend näherten. Zehn Taros lagen vor ihr. Sie zählte sie: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun – da nahm Tawhaki ihr die zehnte weg; die alte Frau tastete überall danach, aber sie konnte sie nicht finden. Sie meinte einen Fehler gemacht zu haben, und zählte die Taros nochmals sehr sorgfältig: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht ... da nahm Tawhaki ihr die neunte weg. Jetzt war sie noch mehr überrascht; ganz langsam zählte sie wieder: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht; und als sie die beiden fehlenden nicht finden konnte, kam sie schließlich darauf, daß irgend jemand seinen Schabernack mit ihr trieb; da holte sie die Waffe hervor, auf der sie der Sicherheit halber stets saß; sie erhob sich und fühlte überall nach, ob sie Tawhaki und Karihi nicht entdecken konnte; die beiden bückten und legten sich jedoch auf den Boden hin; die Waffe sauste über ihre Köpfe hinweg, aber sie traf niemand; nachdem sie die Waffe nach allen Seiten hin geschwungen hatte, setzte sie sich wieder hin und tat sie wieder unter sich. Karihi gab ihr nur einen Schlag ins Gesicht; voll Angst hielt sie sich die Hände vor das Gesicht und rieb die Stelle, wo sie getroffen war; dabei schrie sie: »O, wer hat das getan?« Tawhaki berührte darauf ihre Augen, und sieh' da, mit einem Male konnte sie wieder sehen und alles deutlich erkennen; sie sah ihre Enkelkinder und weinte mit ihnen.

Als die alte Frau sich ausgeweint hatte, fragte sie: »Wohin wollt ihr?« und Tawhaki antwortete: »Ich will mein [322] kleines Mädchen suchen.« Sie sagte: »Wo ist es denn?« Er entgegnete: »Dort oben im Himmel.« Sie fragte weiter: »Wer hat es denn in den Himmel gebracht?« und Tawhaki sprach: »Seine Mutter kam aus dem Himmel. Sie ist die Tochter von Whatitiri-mata-kataka.« Die alte Frau wies auf die Seite und sagte zu ihnen: »Hört, dort hinauf führt euer Weg, aber steigt heute nicht mehr hinauf, es ist schon zu spät; wartet bis morgen früh, und steigt alsdann nach oben.« Er wollte den guten Rat befolgen und rief dem Diener zu: »Koch uns etwas zu essen.« Der Diener bereitete sofort einige Speisen; als sie fertig waren, aßen sie alle zusammen und legten sich darauf zum Schlaf hin.

Beim ersten Morgengrauen rief Tawhaki wieder den Diener: »Koch uns etwas zu essen, damit wir Kräfte sammeln und die Strapazen der großen Reise überstehen«; und als das Mahl beendet war, schenkte Tawhaki den Diener an Mata-kere-po als Anerkennung für ihre große Liebenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft.

Als sie aufbrachen, rief ihm die alte Stammutter zu: »Hier ist der Aufstieg; halt' die Seile mit den Händen ganz fest und klettere hinauf; wenn du in der Mitte zwischen Himmel und Erde angekommen bist, dann hüte dich und schau' nicht nach unten, sonst wirst du schwindelig und fällst herab. Paß auch auf und krieg nicht aus Versehen eins der Seile zu fassen, die lose hin und her schwingen; sondern halte dich lieber an einem fest, das vom Himmel herabhängt und fest im Boden wurzelt.«

Sie hatte noch nicht ausgeredet, als Karihi auf die Seile lossprang, um sie zu fassen; da bekam er versehentlich eins der lockeren in die Hand; er wurde an den Rand des Horizonts geschleudert; dort fing ihn der Wind auf und blies ihn auf die entgegengesetzte Seite vom Himmel; und als er da anlangte, kriegte ihn ein anderer Wind zu fassen und warf ihn hoch zum Himmel empor; und nun trieben die Luftströmungen ihn wieder zur Erde hinab. Als er dort ankam, rief Tawhaki ihm zu: »Jetzt, Bruder, laß los, jetzt ist es Zeit!« [323] Er tat es und stand wieder auf festem Boden; und die beiden Brüder weinten vor Freude darüber, daß Karihi eben, eben noch knapp dem Tode entronnen war.

Als sie fertig waren, sagte Tawhaki, der nun fürchtete, daß seinem jüngsten Bruder noch anderes Unheil zustieß: »Bitte, ich möchte gern, daß du heimgehst und dich unserer Familie und Anhanges annimmst.« Und Karihi tat nach dem Wunsche seines Bruders und kehrte wieder in das Dorf des Stammes zurück.

Jetzt stieg Tawhaki zum Himmel empor; als er dabei war, rief ihm seine alte Großmutter hinterher: »Halt dich fest, mein Junge; halt dich gehörig fest.« Tawhaki tat es und murmelte besonders kräftige und wirksame Zaubersprüche bei dem Aufstieg, um sich gegen die Gefahren und Schwierigkeiten des fürchterlichen Weges zu schützen.

Schließlich langte er beim Himmel an und schwang sich hinein. Nun verwandelte er sich; das freundliche, jugendliche Aussehen verschwand, und er wurde zum häßlichen alten Mann; er folgte dem Wege, auf den er geraten war, und kam in einen dichten Wald; der Weg führte durch den Wald und brachte ihn schließlich an den Ort, wo seine Schwäger wohnten; die waren gerade mit ihren Leuten dabei, sich Boote aus den Bäumen zu bauen; und als sie ihn erblickten, dachten sie nicht im entferntesten daran, wer der Fremde wohl sein könnte, und riefen: »Seht 'mal den alten Kerl da, der kann einen schönen Diener für uns abgeben!« Doch Tawhaki ging ruhig weiter und setzte sich bei den Leuten hin, die an den Booten bauten.

Mittlerweile war es Abend geworden; seine Schwäger hörten mit der Arbeit auf und riefen ihm zu: »Heda! alter Mann! trag uns doch bitte die schweren Äxte nach Hause!« Er sagte ja, und sie gaben ihm die Äxte. Der alte Mann sprach zu ihnen: »Geht nur voran und wartet nicht auf mich; ich bin alt, und ihr habt mich schwer bepackt; ich kann nicht so schnell gehen.« Da zogen sie denn los, und der Alte folgte ihnen langsam nach. Als seine Schwäger mit ihren[324] Leuten außer Sicht waren, kehrte er zum Boot um; er nahm die eine Axt und fuhr damit über das Boot vom Bug nach dem Heck hinweg, und sieh' da, die eine Bootsseite war fix und fertig. Dann nahm er die Axt wieder zur Hand und fuhr damit noch einmal vom Bug zum Heck über das Boot hinweg, und sieh' da, auch die andere Seite war fertig; schön und prächtig sah das ganze Boot aus.

Dann zog er wieder ruhig als ein alter Mann seines Weges; er trug die Äxte auf den Schultern, und niemand begegnete ihm unterwegs; doch als er in die Nähe des Dorfes kam, bemerkte er zwei Frauen im Walde, die sammelten Feuerholz, und als sie ihn sahen, sagte die eine zur andern: »Sieh' doch! ist das nicht ein wunderlicher alter Mann?« und die Gefährtin antwortete: »Er soll unser Diener werden,« worauf die erste entgegnete: »Dann laß ihn das Feuerholz schleppen.« Sie holten den Tawhaki heran und luden ihm ein Bündel Holz auf; und er mußte es nun zusammen mit den schweren Äxten tragen. So behandelten die Frauen, die doch selber Dienerinnen waren, den mächtigen Häuptling als Diener.

Als sie ins Dorf kamen, riefen die beiden Frauen: »Wir haben einen alten Mann gefangen, der soll unser Diener sein.« Und Tango-tango antwortete: »Schön, bringt ihn nur her. Er soll alle Arbeit für uns tun.« Tango-tango ahnte ja nicht, daß der Mann, den sie als Diener behandelten, mit dem sie so herumstießen, den sie ausschalten, ihr eigener Gatte, Tawhaki, war.

Als Tawhaki da Tango-tango mit dem kleinen Mädchen oben am Feuer sitzen sah, ging er auf sie zu; die Anwesenden versuchten ihn zurückzuhalten und riefen: »He! Heda! paß auf, was du tust! Geh da nicht hin, sonst wirst du tabu, weil du bei Tango-tango sitzst.« Der alte Mann kümmerte sich nicht darum, sondern ging geradeaus und warf die Last Feuerholz unmittelbar beim Feuer von Tango-tango hin. Da riefen sie alle: »Nun ist der Alte tabu; doch er hat selbst Schuld.« Und Tango-tango ahnte nicht im geringsten, daß [325] es Tawhaki war; und so saßen denn Mann und Frau am hellen Feuer beieinander, der eine auf dieser, die andere auf jener Seite.

Sie blieben alle im Hause, bis am nächsten Morgen die Sonne aufging; bei Tagesanbruch riefen seine Schwäger: »Heda, alter Mann! bring uns doch die Äxte hin.« Da nahm der alte Mann die Äxte und zog damit ab; sie gingen zusammen in den Wald, um die Boote auszuhöhlen. Als sie da ankamen, sahen die Schwäger das Boot, an dem Tawhaki gearbeitet hatte, und gerieten darob sehr in Erstaunen; sie sagten: »Nanu, so haben wir das Boot doch nicht verlassen; wer mag wohl daran gearbeitet haben?« Nachdem sich ihre Verwunderung etwas gelegt hatte, setzten sie sich hin und höhlten ein neues Boot aus; sie arbeiteten bis gegen Abend, dann riefen sie wieder wie am Tage vorher den Alten herbei und sagten: »Hallo, alter Mann! komm her und trag uns die Äxte wieder nach Hause!« Er antwortete wieder: »Ja,« und als sie fortgingen, blieb er zurück; und als sie außer Sicht waren, nahm er wieder die Axt und bearbeitete das Boot, das sie fertig machen wollten; als er seine Arbeit getan hatte, kehrte er wieder ins Dorf zurück; er begab sich wieder ans Feuer von Tango-tango, und sie blieben zusammen, bis am andern Tag die Sonne aufging.

Als sie nun wieder früh an ihr Tagewerk gehen wollten, riefen sie Tawhaki herbei: »Heda, alter Mann! trag uns die Äxte hin«; geduldig und schweigend ging der Alte mit ihnen und trug die Äxte auf der Schulter. Wie sie nun zu den Booten kamen, an denen sie gearbeitet hatten, da waren die Schwäger bei dem Anblick ganz überrascht und riefen: »Nanu, so haben wir das Boot doch nicht verlassen; wer mag wohl daran gearbeitet haben?« Sie wunderten sich eine Weile und setzten sich dann hin, um ein neues Boot auszuhöhlen; sie arbeiteten bis gegen Abend; da kam ihnen der Gedanke, sie wollten sich im Walde verstecken und aufpassen, wer wohl käme und an dem Boot arbeitete; aber Tawhaki hörte nicht, als sie den Plan besprachen.

[326] Sie taten also, als ob sie heimgingen; und nach einer kleinen Wegstrecke gingen sie seitwärts ab und versteckten sich im dichten Gebüsch an einen Platz, von wo aus man die Boote sehen konnte. Auch Tawhaki ging ein Stückchen in den Wald hinein; er warf seine alten Kleider ab und sprach die Zauberformel, die ihm die Verwandlung nahm und seine frühere Gestalt wiedergab; er sah jetzt wieder jung und frisch aus und begann die Arbeit am Boot. Als seine Schwäger ihn bei dieser Beschäftigung erblickten, sprach der eine zum andern: »Schau, das muß der Alte sein, den wir zum Diener machten, der macht uns das Boot fertig.« Und wiederum rief einer dem andern zu: »Komm her! komm, paß auf! er sieht aber doch nicht im geringsten so aus, wie der alte häßliche Mann.« Und sie sprachen untereinander: »Das muß ein Halbgott sein.« Sie zeigten sich ihm nicht und eilten ins Dorf; dort baten sie ihre Schwester Tango-tango um die Beschreibung ihres Gatten; sie schilderte ihn so gut sie es konnte und beschrieb ihn genau so wie den Mann, den sie im Walde gesehen hatten; da sagten sie zu ihr: »Ja, das muß er sein; der sieht genau so aus, wie du sagst.« Ihre Schwester antwortete: »Dann ist der Häuptling gewiß euer Schwager.«

Damit erschien auch Tawhaki schon im Dorfe; er hatte sich wieder verwandelt und sah wie der alte häßliche Mann aus. Doch Tango-tango fragte ihn sogleich: »Nun sag, wer bist du?« Tawhaki antwortete nicht, sondern ging geradeaus auf sie zu. Sie fragte ihn nochmals: »Sag mir, bist du Tawhaki?« Da brummte er als Zustimmung: »Hmm!« und ging geradeaus, bis er an der Seite seiner Frau stand; er hob seine kleine Tochter hoch, nahm sie auf den Arm und drückte sie an die Brust. Alle Anwesenden begaben sich nun hinaus, denn durch Tawhaki war der ganze Platz tabu geworden; die Leute murmelten ihren Beifall und waren alle überrascht, als sie sein herrliches Aussehen bemerkten; denn wie er als alter Mann unter ihnen gewesen war, da hatte er ganz anders ausgesehen als jetzt in seinem vollen Glanze. [327] Darauf zog er sich mit seiner Frau zurück und sagte zu ihr: »Unserer kleinen Tochter wegen bin ich hierhergekommen; sie soll jetzt die Weihen erhalten, die einem vornehmen Kinde zukommen, damit sie in ihrem Leben künftig nur Glück und Freude kennen lernt.« Tango-tango stimmte dem zu.

Als am Morgen die Sonne aufging, da brachen sie der Tür gegenüber ein Loch in die Hauswand; man sollte den vornehmen Rang des Mädchens erkennen, wenn es hier, statt auf dem gewöhnlichen Wege, hinausgetragen wurde; und sie sprachen die Gebete, als sie durch das Loch hinausgetragen wurde.

Nachdem die Gebete und Segen gesprochen waren, fuhren Blitze aus den Armhöhlen von Tawhaki heraus; dann trugen sie das kleine Mädchen ans Wasser, tauchten es unter und sprachen die Weihegebete über sie.

[Tawhaki lebte fortan im Himmel. Er wird als Gott verehrt, und wenn er einherschreitet, dann donnert und blitzt es]

Quelle:
Hambruch, Paul: Südseemärchen. Jena: Eugen Diederich, 1916, S. 315-328.
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