2. Wie der Zwerghirsch Schiffbruch erlitt

[34] »Komm,« sagte der Zwerghirsch zum Reiher, »komm und segele mit mir nach Java.« So segelten sie los; Freund Zwerghirsch saß am Steuer, Freund Reiher paßte auf's Segel. Der Wind wehte von Norden. Freund Zwerghirsch wurde bald schläfrig, und das Boot fiel vom Winde ab.

Sprach Freund Reiher: »Weshalb fällt das Boot ab? Was macht das Steuer, Freund Zwerghirsch?« – »Ich habe ein kleines Schläfchen gemacht,« antwortete er. »Bring das Boot wieder in den Wind,« sagte der Reiher. Der Zwerghirsch erwiderte: »Jawohl, schon gut! Ich stehe meinen Mann.« Dann döste er wieder ein, und der Reiher rief: »Hör mal, das ist ja unerträglich; schau, du mußt sterben, und dann ist es mit dir vorbei. Ich werde jetzt ein Loch in den Boden picken, und du kannst alsdann mit dem Boote den Meeresgrund besichtigen.«

Der Zwerghirsch sagte: »Mein Lieber, bitte, tue das nicht. Ich bin ein furchtbar ungeschickter und schlechter Schwimmer.« Sie segelten weiter. Der Zwerghirsch schlief zum dritten Male ein. Da vermochte der Reiher nicht an sich zu halten und sagte: [34] »Zum Donnerwetter, Freund Zwerghirsch, mit deinem verdammten Schlafen am Steuer!« Er geriet ganz aus dem Häuschen und pickte ein Loch ins Boot. Das Wasser drang ins Boot und Freund Zwerghirsch strampelte mit den Beinen im Wasser herum und schwamm mutterseelenallein auf dem Meere.

Da kam ein junger Hai des Wegs geschwommen und rief: »Jetzt werde ich dich ohne weitere Umstände auffressen.« Zwerghirsch antwortete: »Aber Freund Hai, mich willst du fressen? Weshalb denn? Ich bin doch nur ein einziger Bissen für dich. Aber wenn du mich schön ans Land bringst, dann werde ich dich einen wundervollen Zauber lehren, der ist so wunderbar, daß du danach niemals wieder auf die Jagd zu gehen brauchst.« Da entgegnete der Hai: »Gut, einverstanden. Wenn du mir deinen wundervollen Zauber zeigst, will ich dich ans Land tragen.« Zwerghirsch stieg auf den Rücken von Freund Hai und wurde ans Land gebracht.

Als sie da ankamen, sagte der Zwerghirsch: »Warte ein Weilchen, ich hole bloß die Zauberkräuter.« Damit lief er in den Busch, hob etliche Rotang auf, nahm sie mit und rief: »Nun werde ich dir die Zauberkräuter geben, von denen ich sprach.« Damit band er die Rotangseile an den Schwanz von Freund Hai. Der Hai fragte: »Sag mal, weshalb hast du das Seil an meinen Schwanz gebunden?« Zwerghirsch erwiderte: »Sei nur ganz still, ich muß es gehörig festmachen, und dann bekommst du die Zauberkräuter.« So zog er den Hai aufs Trockene und machte aus ihm Hackfleisch. Plötzlich sprang ein Tiger aus dem Busch und rief: »Hier gibt's ja was feines zu futtern, dann man los!« Zwerghirsch meinte jedoch: »Warum willst du mich denn fressen, schau, ich habe hier eine Unmenge Hackfleisch und noch etliches davon übrig.« – »Gut, ich will es mit dir teilen,« sagte der Tiger. Zwerghirsch erwiderte: »Gewiß, unbedingt wollen wir miteinander teilen, aber du mußt auch gehen und Wasser holen, damit wir kochen können.« Der Tiger trollte sich davon und kam mit dem Wasser zurück.

[35] »Mußt das Fleisch waschen, ehe wir es kochen,« meinte Zwerghirsch. Der Tiger wusch das Fleisch im Wasser. »So, und nun hol' Feuer und brate es,« sagte der Zwerghirsch. Der Tiger holte Feuer und rüstete das Mahl. Als das Fleisch gar war, sprach der Zwerghirsch: »So, und nun besorge noch Trinkwasser, dann werden wir unsern Schmaus halten.« Wiederum ging der Tiger fort, um das Trinkwasser zu holen. Indessen stahl sich der Zwerghirsch mit dem Fleisch davon und kletterte auf eine Eiche. Und als der Tiger zurückkam, waren Zwerghirsch und Fleisch weg. Da rief er: »So, Herr Zwerghirsch, einmal habt Ihr mich angeführt; wenn wir uns nicht wiedersehen, soll es mir nichts ausmachen, aber treffe ich Euch einmal, dann habt Ihr den Tod davon.« Damit hat die Geschichte ein Ende.

Quelle:
Hambruch, Paul: Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde. Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 34-36.
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