9. Der Zwerghirsch, der Tiger und die Wespen

[46] Eine Weile später begegnete der Zwerghirsch dem Tiger. Der redete sehr freundlich zu ihm: »Zwerghirsch, wohin willst du?« – »Ich suche mir etwas zu futtern, sonst nichts.« – »Dann gehe ich mit dir.« Der Zwerghirsch erwiderte: »Liebster, ich will voraus laufen; komm du nur hinterher; ich werde mich an die Seite des Wegs setzen und auf dich warten.«

Darauf suchte der Zwerghirsch sich ein Wespennest. Und an der Seite des Weges fand er denn auch eins, in dem viele Wespen saßen. Die Wespen hatten es, nach ihrer Gewohnheit, zu Füßen eines hohen Baums gebaut. Der Zwerghirsch setzte sich dabei hin.

Kaum saß er, da kam auch schon außer Atem der Tiger gerannt.

»Zwerghirsch, wie bin ich bloß zurückgeblieben, ich habe dich überall gesucht.«

»Ja, Tiger, und ich habe hier schon so lange gesessen und immer auf dich gewartet.«

Der Tiger antwortete: »Ich habe dich überall gesucht, aber ich konnte dich nirgendwo finden.«

»O,« erwiderte der Zwerghirsch, »wie klingt das schön!«

»Was meinst du?«

»Nun, diese Orgel, hör' mal diese schöne Weise.«

»Ich höre nichts.«

»Nun, du mußt ganz nahe herankommen.«

Als der Tiger ganz nahe war, hörte er von der Stelle her, wo [46] der Zwerghirsch saß, ein liebliches Gesumm. Unwillkürlich rief er: »Zwerghirsch, was für schöne Töne! Wie aus einer Flöte.« »Ja,« antwortete der Zwerghirsch, »ich sitze auf der Orgel meines Herrn und muß auf sie aufpassen.«

»Darf ich einmal darauf spielen?«

»O, was soll daraus werden?«

»Ach, nur einen Augenblick, bitte!«

»Einverstanden, aber dann mußt du mich erst ein Stückchen hiervon entfernt in den Busch werfen. Und wenn du die Orgel gut hören willst, vergiß nicht, gehörig hineinzublasen!«

»Vorzüglich,« erwiderte der Tiger, packte den Zwerghirsch und schleuderte ihn ein Ende weg.

Darauf begann der Tiger zu blasen. Es war noch keine Minute verstrichen, da kamen die Wespen wütend heraus und fielen über den Tiger her, den sie unbarmherzig stachen, so daß er in kürzester Zeit ganz unglückselig aussah.

»O,« rief er heulend, »wenn ich dich zu packen kriege! Kein Wort rede ich mehr mit dir, sondern fresse dich gleich auf.«

Vom Zwerghirsch war nichts mehr zu hören und zu sehen. Er hatte sich sorgfältig versteckt und lachte sich eins über das Unglück des Tigers.

Quelle:
Hambruch, Paul: Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde. Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 46-47.
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