10. Der Zwerghirsch, der Tiger und die Schlange

[47] Darauf entfernte sich der Zwerghirsch, lief fort und begegnete einer schlafenden Riesenschlange. Er setzte sich auf ihren Kopf.

Bald kam auch der Tiger.

»Worauf sitzt du denn? Was für ein schönes Ding ist das?« »Das ist eine goldene Kiste, die muß ich für die Gemahlin des Königs bewachen.«

»Laß es mich für einen Augenblick tun!«

»Was fällt dir ein? Was willst du übrigens immer mit mir? Überall wo ich bin, dahin mußt du auch kommen. Nein, das geht nicht. Nur mir allein hat die Königin die Kiste anvertraut.«

Der Tiger blieb dabei: »Ach, nur einen Augenblick!«

[47] »Das geht doch nicht! Ich bin klein, und du bist groß, das hält die Kiste ja nicht aus.«

»Nur zu!«

»Meinetwegen, einen kleinen Augenblick, aber erst wirf mich in den Busch. Und wenn ich dann rufe, dann setze dich darauf.«

Gesagt, getan. Auf den Ruf des Zwerghirsches hin setzte sich der Tiger. Doch die Schlange hatte ihr Maul auf, was der Tiger in seiner Freude gar nicht beachtet hatte. Mit einem Male stimmte der Tiger ein furchtbares Wehgeschrei an; sein Schamteil war in den Rachen der Schlange geraten, und sie hatte es zur Hälfte abgebissen.

Heulend und wehklagend schlich der Tiger fort – bis heute sind davon noch die Spuren zu sehen –, um den verfluchten Zwerghirsch aufzuspüren.

Quelle:
Hambruch, Paul: Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde. Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 47-48.
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