[87] 30. Das übertretene Verbot

Es war einmal ein Königssohn, der zählte zwölf Jahre; er war sehr hübsch und von sanftmütigem Wesen. Nun wünschte sich der Knabe, lebendig ins Paradies zu kommen. Er nahm seine Büchse, ging in den Wald, ging durch Wiesen und Sümpfe, und der Tag neigte sich dem Ende zu, und es wurde dunkel. Da kam ein Gewitter und Regen. Aber der Königssohn ging weiter und verlief sich. Er gelangte in dunkler Nacht zu einer weiten steinigen Halde. Da sah er ein mächtiges Feuer im Walde brennen und ging darauf zu, aber er wagte sich nicht heran, denn bei dem Feuer stand eine große alte Frau. Und die Frau rief ihn: »Komm, komm, Königssohn, komm ans Feuer.« Da ging er hin und sagte: »Guten Abend, Mutter.« – »Was suchst du denn?« fragte die Alte. Der[87] Königssohn sprach: »Ich möchte lebendig ins Paradies kommen.« Und die Frau sagte: »Jetzt ist es Nacht, aber wenn der Tag dämmert, sollst du hineinkommen. Ich habe vier Söhne, es sind die Winde. Der erste heißt Nordwind, der zweite Westwind, der dritte Ostwind und der vierte Südwind. Doch wenn meine Söhne nach Hause kommen, sage nichts, laß mich alles machen.«

Da kam der älteste Sohn, der Nordwind, nach Hause. Er fragte die Mutter: »Warum riecht es hier nach einem Menschen?« Und die Mutter antwortete: »Ein Königssohn ist hier, der ins Paradies will.« Die Alte hatte aber einen großen Sack, und wer von ihren Söhnen nicht gehorchte, den steckte sie da hinein. Und sie fragte den Nordwind: »Wo bist du heute gewesen? Hast du Gutes oder Böses geschafft?« Da antwortete der Nordwind: »Ich wollte einen Jäger durch Frost töten. Drei Jahre habe ich es versucht, aber es gelang mir nicht. Wenn ich ihm die Füße zwickte, so trat er mich, kam ich ihm an die Hände, so schlug er sie zusammen. Da hab' ich ihn laufen lassen und statt seiner einen Kaufmann auf dem Schlitten in seinem Bärenpelz getötet.« Und er wandte sich zum Königssohn und sprach: »Was bist du für ein Mann, und was tust du hier?« – »Sei still«, sagte die Mutter, »oder du kommst in den Sack.« Der Sohn war still und redete nicht mehr.

Dann kam der Westwind, der zweite Sohn, nach Hause, der sprach: »Was ist das für ein Mann hier? Jagt ihn fort!« Die Mutter sagte: »Still, Junge, oder du kommst in den Sack. Was hast du draußen gemacht, mein Sohn?« – »Weder Gutes noch Böses, ich habe die Seeleute ein wenig geneckt.«

Nun kam der Ostwind, ihr dritter Sohn, der sprach zu dem Königskind: »Was bist du für ein Mann? Mach, daß du fortkommst! Was tust du hier?« Da sagte die Mutter wieder: »Sei still, oder ich stecke dich in den Sack.« Dann fragte sie: »Was hast du, mein Sohn, die Zeit her getrieben?« Er sprach: »Ich habe Ähren ausgeschüttelt als Tagelöhner beim Hasen.«

Zuletzt kam der vierte Sohn, der Südwind. Der fragte den Königssohn: »Wer bist du denn, und was suchst du hier?« Er antwortete: »Ich suche das Paradies.« Da sagte der Südwind:[88] »Leg dich schlafen, morgen bringe ich dich lebendig ins Paradies.« – »Wann warst du zuletzt im Paradies, mein Sohn?« fragte die Mutter. Und der Südwind sprach: »Es wird morgen ein Jahr!«

In der Nacht aber machte er sich auf, nahm den Königssohn auf seinen Rücken. Als der Knabe aus dem Traum erwachte, war er schon hoch in den Wolken. Da sagte der Südwind zum Königssohn: »Sobald wir dem Paradies nahen, kommt uns Inti, die Beherrscherin des Paradieses, entgegen.« Und sie kamen zum Paradies, und der Südwind grüßte: »Guten Morgen, hohe, heilige Inti.« Und Inti sagte: »Was bringst du, wie geht es dir? Du hast dein Wort gehalten.« Dann fragte sie den Königssohn: »Warum bist du hierhergekommen, willst du hierbleiben oder gehst du mit dem Winde wieder zurück?« Der Königssohn antwortete: »Ich möchte hierbleiben, wenn ihr mir Adams und Evas Schatten zeigt.« Inti sprach: »Sieh her, dort unter dem Baume sind Adams und Evas Schatten, wenn du hierbleibst, wird es dir ebenso gehen wie ihnen.« Der Königssohn sprach: »Ich bleibe hier, aber ich bin nicht ungehorsam wie Adam und Eva.« Da sagte Inti zu ihm: »Ich gebe dir eine Aufgabe.« Und sie zeigte ihm alle möglichen Genüsse und Freuden. Sie führte den Königssohn in die prächtigsten Räume des Paradieses, wo die Schatten lebendig waren, bloß keine Seele hatten. Dann sagte sie: »Alles dies, so weit du sehen kannst, will ich in deine Hut geben, aber du darfst mich nicht berühren. Das ist deine Aufgabe. Der Tag bringt dir allerlei Vergnügen und Freuden, die höchsten, die die Welt hat.« Und sie sprach weiter: »Wenn ich mich am Abend zur Ruh lege und dich rufe: ›Komm, komm, Königssohn!‹, dann komm ja nicht. Wenn du kommst, so stirbst du, und es geht dir wie Adam und Eva.« – »Ich komme nicht«, sagte der Königssohn, »ich habe hier genug Freuden, du kannst dich darauf verlassen, ich komme nicht.« Da sagte Inti zum Winde: »Geh fort, der Königssohn bleibt hier und erfüllt die Gebote.« Und der Wind sprach: »Lebe wohl, Inti, lebe wohl, Königssohn, nach einem Jahr komme ich wieder und sehe nach dir.« Dann machte er sich auf und ging.[89]

Nun kam der erste Tag, er brachte Freuden und Vergnügen aller Art. Und der Abend kam, und Inti sagte zum Königssohn: »Komm, komm, doch wenn du kommst, so stirbst du.« Dann mahnte sie wieder: »Komm nicht!« Der Königssohn sann nach und ging einen Schritt näher, und es hielt ihn nichts, er kam Inti noch näher. Die Schatten fingen an zu lachen – sie lachten ohne Seele – und sagten: »Du brichst dein Versprechen, du brichst dein Wort.« Und der Königssohn dachte: ›Ich gehe zu ihr, aber ich küsse sie nicht, ich will nur sehen, wo sie schläft.‹ Inti schlief unter dem Feigenbaum, der dem Königssohn verboten war. Der Königssohn ging hin und besah Intis Ruhebett, und Inti erwachte. In ihren Augen schimmerten Tränen, sie weinte. Und Inti sagte zum Königssohn: »Du hast dein Versprechen gebrochen, dein Wort nicht gehalten.« Aber der Königssohn antwortete: »Ich breche es nicht, ich küsse dich nicht.« Und er vergaß sein Versprechen und küßte Inti. Und als er Inti geküßt hatte, entfloh das Paradies wie ein Licht in weiter, weiter Ferne. Und dann verschwand es, und der Königssohn starb, und es geschah ihm wie Adam und Eva.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 87-90.
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