In der Obergasse zu Rodingen trug sich vor gar langer Zeit folgendes zu: Ein kleines Mädchen wollte keine andere Nahrung zu sich nehmen als Milch mit eingetunkten Brotschnitten; und jedesmal begab es sich mit seinem Milchnapf in die Hausflur.
Als aber der Winter herannahte und es anfing kalt zu werden, wollte man das Kind nicht mehr hinausgehen lassen, aus Furcht, es möchte sich eine Erkältung zuziehen. Da fing es heftig an zu weinen und sagte: »Dann bekommt mein Vili (Vögelein) ja nichts!« Und als das Kind fortfuhr zu weinen, ließ man es endlich mit seinem Milchnapf wieder hinausgehen, beschloß jedoch, es zu beobachten, um zu sehen, was es mit seinem Vili meine.
Das Kind begab sich hinaus, man folgte ihm. Es trat vor ein Loch, das sich in der Hausflur in der Mauer befand, und sieh! eine Schießschlange streckte sofort den Kopf heraus und fing an, mit dem Kinde Milch zu trinken. Das Kind streichelte sie, und die Schlange tat ihm nichts zuleide. Ja, es schlug sie sogar mit dem Löffel auf den Kopf und sagte: »Du trinkst immer bloß Milch und issest kein Brot; du mußt auch Brot essen!« Die Schlange ließ sich schlagen und fuhr ruhig fort, Milch zu trinken. Als die Schüssel leer war, zog sie sich in ihr Loch zurück.
Die Schlange mußte nun um jeden Preis getötet werden, denn niemand getraute sich mehr, vor die Tür zu gehen. Um die Schlange aus dem Loche zu locken, gab man dem Kinde abermals Milch und ließ es hinausgehen. Als nun die Schlange den Kopf herausstreckte und anfing, mit dem Kinde zu trinken, schoß ein gewandter Schütze ihr eine Kugel durch den Kopf, worauf die Schlange leblos zu den Füßen des Kindes niederfiel. Man nahm ihr die Krone und begrub den Körper. Aber auch das Kind starb schon nach[216] drei Tagen vor Gram und Leid; denn es konnte nicht verschmerzen, daß man ihm sein Vili so grausam ums Leben gebracht hatte.
Lehrer P. Hummer