Vorwort.

Mit der Geschichte eines Landes läuft eine mehr oder minder lange Reihe von Sagen und Märchen, deren Kern oft aus mythologischen Bruchstücken besteht, und deren Sprossen nicht selten einem Grunde entsteigen, welcher für Glaubwürdigkeit zeugt; ihre Zweige durchziehen das Gemüth von Alt und Jung und bezeichnen meistens Herkunft, Charakter, Sitten und Gebräuche des Volkes, in deren Munde sie geht.

Was nun gerade die Sagen in Graubünden angeht, haben viele derselben in der Mythe ihren Ursprung, nur sind Zuthaten und Ausschmückung, je nach der Thalschaft, die sie beherrscht, oft eigen, und die Sinnesart der Bewohner kennzeichnend.

Die Mythe tritt in unsern Sagen mehr als nur sporadisch auf. In ordentlicher Folge treffen wir in denselben Wuotan mit dem wüthenden Heere, Nachtvolk und Todtenvolk, Holda-Berchta, die Alpenmutter, die Nornen, dann die elbischen Wesen, Schrättlig, Doggi, Fänggen (wilden Männli), Dialen und den Buz (Buzibau), ferner die Hexen und deren geheimnißvolle Praxis, Leben und Treiben.

Wie unser vaterländische Dichter Alphons Flugi von Aspermont in stiller Zurückgezogenheit seine Gedankenspähne zur Fortsetzung seiner sehr verdienstlichen Sagensammlung aus Graubünden zu ordnen im Begriffe steht, ist neuester Zeit in der Person des jungen Studierenden Caspar Decurtins von Trons eine tüchtige Kraft in die Schranken getreten. Sind dessen einzelne Beiträge für vorliegendes kleine Werk an und für sich schon werthvoll genug, wird die Sammlung der den Anhang bildenden Märchen Kennern und Laien sehr willkommen sein. Sowohl das Sammeln dieser Märchen, als auch die sorgfältige Bearbeitung zeigen die rastlose Thätigkeit und Tüchtigkeit der jungen Kraft.

Die von Herrn Decurtins mitgetheilten Sagen sind großentheils in seiner gelungenen Arbeit »Ueber Sage und Volksdichtung des romanischen Oberlandes« im Centralblatt 6–8 des Zofinger-Vereins 1873 abgedruckt. Der gleichen Abhandlung entnahm ich auch die Nachrichten über die Hexenprozesse aus diesem Thale.

Außer in genanntem Blatte ist bis heute noch in keinem literarischen Organe dieser vorzüglichen Arbeit des Hrn. Decurtins erwähnt.

Auch dem Herrn J.J. Obrecht, Professor an der bündn. Kantonsschule, ist Verfasser, angesichts der gütigen Mittheilungen, anerkennend sehr verbunden; durch ihn wurde ermöglicht, eine Sammlung der Bündner Sagen erheblich zu vervollständigen.

Zudem finden sich die Quellen, die der Bearbeitung zu Grunde lagen, in Auszügen aus authentischen Schriften, oder in Mittheilungen von Stadt und Land, und mit Vergnügen sandten auch die HH. Studiosen an der bündn. Kantonsschule Ergebnisse ihrer Forschungen ein.

Chur, im Januar 1874.

Der Verfasser.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986).
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