Königsvogel (Tyrannus carolinensis)

[590] Wilson, Audubon, der Prinz von Wied und andere Forscher haben uns so ausführliche Mittheilungen über eine der berühmtesten Arten dieser Familie gemacht, daß wir uns einer genaueren Lebenskenntnis derselben rühmen dürfen. Der »Königsvogel« oder Tyrann (Tyrannus carolinensis, intrepidus, leucogaster und Pipiri, Muscicapa tyrannus, rex und animosa, Lanius tyrannus) zählt zu den mittelgroßen Arten der Sippe: seine Länge beträgt 21, die Breite 36, die Fittiglänge 12, die Schwanzlänge 9 Centimeter. Das weiche und glänzende Gefieder, welches sich auf dem Kopfe zu einer Haube verlängert, ist auf der Oberseite dunkel blaugrau, auf den Kopfseiten am dunkelsten, während die schmalen Haubenfedern prachtvoll feuerfarbig und gelb gerandet sind; die Unterseite ist graulichweiß, auf der Brust aschgrau überflogen, an Hals und Kehle reinweiß; die Schwingen und Steuerfedern sind bräunlichschwarz, letztere dunkler gegen das Ende hin und wie die Flügeldeckfedern an der Spitze weiß. Das Auge ist dunkelbraun, der Schnabel schwarz, der Fuß graulichblau. Beim Weibchen sind alle Farben unscheinbarer und düsterer.

»Der Königsvogel«, erzählt Audubon, »ist einer von den anziehendsten Sommergästen der Vereinigten Staaten. Er erscheint in Louisiana ungefähr um die Mitte des März. Viele verweilen [590] hier bis zur Mitte des September; aber die größere Anzahl zieht sich all gemach nordwärts und verbreitet sich über jeden Theil des Reiches. Die ersten Tage nach seiner Ankunft scheint der Vogel ermüdet und traurig zu sein; wenigstens verhält er sich vollkommen still. Sobald er aber seine natürliche Lebendigkeit wieder erlangt hat, hört man seinen scharfen, trillernden Schrei über jedem Felde und längs der Säume aller unserer Wälder.


Königsvogel (Tyrannus carolinensis) und Bentevi (Saurophagus sulfuratus). 1/2 natürl. Größe.
Königsvogel (Tyrannus carolinensis) und Bentevi (Saurophagus sulfuratus). 1/2 natürl. Größe.

Im Inneren der Waldungen findet er sich selten; er bevorzugt vielmehr Baumgärten, Felder, die Ufer der Flüsse und die Gärten, welche das Haus des Pflanzers umgeben. Hier läßt er sich am leichtesten beobachten.«

Wenn die Brutzeit herannaht, nimmt der Flug dieser Vögel ein anderes Gepräge an. Man sieht die Gatten eines Paares in einer Höhe von zwanzig oder dreißig Meter über dem Grunde unter fortwährenden flatternden Bewegungen der Flügel dahinstreichen und vernimmt dabei fast ohne Aufhören seinen lauten Schrei. Das Weibchen folgt der Spur des Männchens, und beide scheinen sich nach einem geeigneten Platze für ihr Nest umzusehen. Währenddem haben sie aber auch auf verschiedene Kerbthiere wohl Acht, lassen sich durch sie ab und zu aus ihrem Wege lenken und nehmen die erspähten mit einer geschickten Schwenkung auf. Dieses Spiel wird dadurch unterbrochen,[591] daß beide sich dicht neben einander auf einen Baumzweig setzen, um auszuruhen. Die Wahl des Nistplatzes wird beendet, und nunmehr sucht sich das glückliche Pärchen trockene Zweige vom Boden auf, erhebt sich mit ihnen zu einem wagerechten Aste und legt hier den Grund zur Wiege seiner Kinder. Flocken von Baumwolle, Wolle oder Werch und ähnliche Stoffe, welche dem Neste eine bedeutende Größe, aber auch ziemliche Festigkeit verleihen, werden auf diesem Grunde aufgebaut, die Innenränder mit feinen Würzelchen und Roßhaaren ziemlich dick ausgepolstert. Nun legt das Weibchen seine vier bis sechs fünfundzwanzig Millimeter langen, neunzehn Millimeter dicken, auf röthlichweißem Grunde unregelmäßig braun getüpfelten Eier und beginnt zu brüten. Jetzt zeigt sich das Männchen voller Muth und Eifer. In der Nähe der geliebten Gattin sitzt es auf einem Zweige und scheint keinen anderen Gedanken zu hegen, als sie vor jeder Gefahr zu schützen und zu vertheidigen. Die erhobenen und ausgebreiteten Federn des Hauptes glänzen im Strahle der Sonne; die weiße Brust leuchtet auf weithin. So sitzt es auf seinem Stande und läßt sein wachsames Auge rundum schweifen. Sollte es eine Krähe, einen Geier, einen Adler erspähen, gleichviel ob in der Nähe oder in der Ferne, so erhebt es sich jählings, wirft sich auf den gefährlichen Gegner, nähert sich ihm und beginnt nun, ihn mit Wuth anzugreifen. Es stürzt sich auf seinen Feind hernieder, läßt seinen Schlachtruf ertönen, fällt wiederholt auf den Rücken des Gewaltigen herab und versucht, sich hier festzusetzen. In dieser Weise, den minder gewandten Gegner fortwährend durch wiederholte Schnabelstöße behelligend, folgt es ihm vielleicht eine (englische) Meile weit, bis es seine Pflicht gethan zu haben glaubt. Dann verläßt es ihn und eilt, wie gewöhnlich mit den Flügeln zitternd und beständig trillernd, zu dem Neste zurück. Es gibt wenige Falken, welche sich dem Nistplatze des Königsvogels nähern; selbst die Katze hält sich so viel wie möglich zu Hause, und wenn sie wirklich erscheinen sollte, stürzt sich der kleine Krieger, welcher ebenso furchtlos ist wie der kühnste Adler, mit so schneller und kräftiger Bewegung auf sie und bringt sie durch wiederholte Angriffe von allen Seiten derartig außer Fassung, daß Hinz, in die Flucht geschlagen und beschämt, nach Hause zieht.

Der Tyrann fürchtet keinen seiner luftbeherrschenden Gegner, mit Ausnahme der Purpurschwalbe. Obwohl ihn diese oft im Beschützen des Nestes und Gehöftes unterstützt, greift sie ihn doch zuweilen mit solchem Nachdrucke an, daß sie ihn zum Rückzuge zwingt. Freilich übertrifft auch der Flug der Schwalbe den des Königsvogels so sehr an Schnelligkeit und Kraft, daß er sie befähigt, dem Stoße des kräftigeren Tyrannen, welcher ihr gefährlich werden könnte, ohne Mühe auszuweichen. Audubon führt ein Beispiel an, daß einige Purpurschwalben, welche bis dahin mehrere Jahre lang die alleinigen Eigenthümer eines Gehöftes gewesen waren, den tiefsten Haß gegen ein Paar Königsvögel an den Tag legten, die sich erdreistet hatten, ihr Nest auf einem dem Hause nahen Baume zu erbauen. Als das Weibchen des Paares zu brüten anfing, griffen die Schwalben das wachehaltende Männchen einige Tage unablässig an, stießen es trotz seines Muthes und seiner überlegenen Stärke wiederholt auf den Grund und quälten es so lange, bis es vor Ermattung starb. Dann wurde das verzweifelte Weibchen gezwungen, sich einen neuen Beschützer zu suchen.

Da, wo es Kleefelder gibt, sieht man den Königsvogel oft über denselben schweben, plötzlich sich zwischen die Blüten stürzen, von dort aus sich wieder erheben und ein aufgescheuchtes Kerbthier wegschnappen. Dann und wann verändert er auch diese Jagd, indem er in sonderbaren Zickzacklinien hin-und herfliegt, nach unten und oben sich wendet, als ob die ins Auge gefaßte Beute alle Künste des Fluges anwende, um ihm zu entkommen. Gegen den Monat August hin wird der Vogel verhältnismäßig stumm. Gleichzeitig stellt er sich auf den brachliegenden Feldern und Wiesen ein und lauert hier, auf irgend einem erhabenen Gegenstande sitzend, auf Kerbthiere, denen er jetzt ohne alle Umschweife nachfliegt, sobald er sie erspähte. Mit der gefangenen Beute kehrt er zu derselben oder einer ähnlichen Warte zurück, tödtet sie hier und verschluckt sie dann. Sehr häufig fliegt er jetzt auch über große Ströme oder Seen hin und her, nach Art der Schwalben Kerfe verfolgend. In derselben Weise, wie dieser Vogel, gleitet er auch über dem Wasser dahin, um zu trinken; wenn [592] das Wetter sehr heiß ist, taucht er, um sich zu baden, in die Wellen, erhebt sich aber nach jedem Eintauchen auf einen niederen Baumzweig am Ufer und schüttelt das Wasser von seinem Gefieder ab.

Der Königsvogel verläßt die mittleren Staaten früher als andere Sommergäste. Auf seinem Zuge fliegt er rasch dahin, indem er sechs- oder siebenmal seine Flügel schnell zusammenschlägt und dann auf einige Meter hin ohne Bewegung fortstreicht. In den ersten Tagen des September hat Audubon Flüge von zwanzig und dreißig in dieser Weise dahinfliegen sehen. Sie waren vollkommen lautlos und erinnerten durch ihren Flug lebhaft an die Wanderdrosseln. Auch während der Nacht setzen sie ihren Zug fort, und gegen den ersten Oktober hin findet man nicht einen einzigen mehr in den Vereinigten Staaten.

Der Königsvogel verdient die vollste Freundschaft und Begünstigung des Menschen. Die vielen Eier des Hühnerhofes, welche er vor der plündernden Krähe beschützt, die große Kükenzahl, welche, dank seiner Fürsorge, vor der räuberischen Klaue des Falken gesichert ist, die Menge von Kerbthieren, welche er vernichtet, wiegen reichlich die wenigen Beeren und Feigen auf, welche er frißt. Sein Fleisch ist zart und wohlschmeckend; es werden deshalb auch viele der nützlichen Thiere erlegt – nicht deshalb, weil sie Bienen fressen, sondern weil die Louisianer sehr gern die »Bienenfresser« verzehren.


*


Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 590-593.
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