Wintersaateule (Agrotis segetum)

[413] Die Wintersaateule (Agrotis segetum) möchte ich darum nicht unerwähnt lassen, weil ihre Raupe auf Feld und im Garten fast alljährlich, einmal in dieser, das andere Mal in einer anderen Gegend nicht nur lästig, sondern höchst schädlich wird. Sie ist erdfahl, braun, reichlich mit Grau und etwas Grün gemischt, die Haut durchscheinend und stark glänzend, das Nackenschild dunkler als der Körper, die Afterklappe dagegen nicht. Die Hornfleckchen (Warzen) auf den Gliedern fallen, weil kaum dunkler als der Grund, wenig in die Augen. Ihre Anordnung stimmt bei allen derartigen Raupen in folgender Weise überein: auf dem Rücken des zweiten und dritten stehen vier in einer Querlinie, von da bis zum neunten einschließlich zwei große, unter sich entferntere hinten, zwei kleinere, einander mehr genäherte vorn, auf dem zehnten findet kein Unterschied in den Entfernungen der Paare statt, und auf dem elften treten die vorderen weiter auseinander als die hinteren. Aus jedem dieser Hornplättchen, deren andere noch in den Seiten sich reihen, [413] entspringt ein Borstenhaar. Ueber die beiden äußeren der durch jene Anordnung entstehenden vier Warzenreihen laufen zwei schmale gelbliche, aber verwischte Längsstreifen. Die Raupe wird bis 52 Millimeter lang und so dick, wie ein kräftiger Gänsekiel. Von August bis Oktober, bei anhaltend milder Witterung auch bis zum November, macht sie sich durch ihren Fraß am Winterraps und Rübsen, an den verschiedenen Rüben, Kohlarten, Kartoffeln und der Wintersaat auf den Feldern, an allerlei Pflanzen in den Gärten bemerklich, ohne sich äußerlich blicken zu lassen; denn sie verbirgt sich bei Tage unter Steinen und Erdschollen oder, wo diese fehlen, flach unter der Erde an der Wurzel ihrer Futterpflanze und kommt nur des Nachts hervor, um dieser sich zu bemächtigen. Ich fand sie nicht selten noch unter halbwüchsig und dann von bedeutend dunklerer Farbe am 20. Juli an Zuckerrüben. Nirgends geht sie die Zaserwurzel an, wie man meinen sollte, da die Sammler sie und ihresgleichen als »Wurzelraupen« bezeichnen, sondern frißt die junge Pflanze über der Wurzel ab und zieht, das Herz verzehrend, die oberirdischen Theile, so weit sie folgen, in ihr Lager, wie der Regenwurm auch thut, oder faßt umgekehrt dieselben von oben an, sich nach unten hineinbohrend. In Rüben und Kartoffeln arbeitet sie, wie der Engerling, Löcher und höhlt letztere manchmal ganz aus. Erwachsen überwintert sie und nur in seltenen Fällen gelangt sie noch zur Verpuppung, in noch selteneren zum Schmetterlinge. Die am 20. Juli in Zuckerrüben gefundenen Raupen hatte ich eingezwingert und später das betreffende Glas offen auf einem Tische stehen. Am Abend des 15. September schwärmte zu meiner nicht geringen Verwunderung eine Wintersaateule um meine Lampe, und beim Nachsuchen im offenen Behälter fand sich die leere Puppenhülse.

Nach gewöhnlichen Verhältnissen verwandeln sich die aus dem Winterschlafe erwachten Raupen in leicht zerbrechlicher Erdhöhle zur Zeit, wo die Rübsaat in den Gipfeln ihre Blüten zu entwickeln beginnt. Die gedrungene, glänzend gelblichrothe Puppe endigt in zwei kurze, etwas auseinandergehende Dornspitzchen. Nach ungefähr vier Wochen Ruhe schlüpft der unansehnliche, 44 Millimeter spannende Schmetterling aus. Seine Vorderflügel sind gleichmäßig heller oder dunkler graubraun und schillern bei dem meist helleren Männchen gelblich. Die beiden Querlinien, dunkler eingefaßt, treten bei den dunklen Stücken nur undeutlich hervor, dagegen lassen sich die beiden vorderen Flecke infolge ihrer schwarzen Umsäumung gut erkennen. Die Wellenlinie ist etwas heller und verläuft, abgesehen von zwei stumpfen Ecken nach außen (dem stumpfen W), vom Saume ziemlich gleich entfernt. Die Linie auf diesem besteht aus dunklen Dreieckchen zwischen den Rippen. Beim Männchen bleiben die Hinterflügel weiß mit Ausschluß der gelblich leicht bestäubten Rippen und des Außenrandes, beim Weibchen erscheinen sie durch stärkere Bestäubung auf der ganzen Fläche wie angeräuchert. Dort tragen außerdem die Fühler bis über die Mitte etwas keulenförmige, immer kürzer werdende, bewimperte Kammzähne. Man begegnet von der zweiten Hälfte des Mai (1862 schon am vierten des genannten Monats) diesem traurigen Proletarier, häufiger im Juni, aber auch im Juli und August, ja, im trockenen Jahre 1865 fand ich ihn noch einzeln im September, am 18. Oktober ein ganz frisches Weibchen unter dem Grase und am letzten Tage des genannten Monats ein abgeflattertes Männchen. Nach dem vorher Gesagten stammten diese Nachzügler ganz entschieden von einer zweiten Brut, deren Nachkommen natürlich bedeutend kleiner durch den Winter kommen müssen und Spätlinge für das nächste Jahr liefern. Die Wintersaateule ist nicht nur über ganz Europa, sondern auch über einen großen Theil von Asien sowie über Südafrika und Nordamerika verbreitet, gehört also entschieden zu den Weltbürgern.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 413-414.
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