Fliedermotte (Gracilaria syringella)

[437] Vor mehreren Jahren fiel mir die Verunstaltung der Blätter an den Syringen in den städtischen Promenaden zu Halle auf, und nachdem ich den Urheber kennen gelernt und in seinem Treiben beobachtet hatte, lese ich in den Sitzungsberichten der Wiener Akademie, daß auch dort die öffentlichen Anlagen und die Privatgärten in gleicher Weise seit längerer Zeit verunstaltet werden, und in Frankreich kommen gleiche Wahrnehmungen vor; denn sicher ist es nur Verunstaltung zu nennen, wenn die überwiegende Anzahl der Blätter eines Baumes oder Strauches nicht ihre natürliche Gestalt und Farbe hat, sondern eingerollt, zerfressen und schließlich gebräunt erscheint. Das winzige Räupchen der ebenso winzigen Fliedermotte (Gracilaria syringella) beleidigt hier so ganz entschieden das Auge. Das sechzehnfüßige, lichtgrüne Wesen mit braunem Kopfe lebt in Gesellschaften bis zu zwanzig, nicht nur an den Blättern des gemeinen und persischen Flieders, sondern [437] auch an denen der Esche (Fraxinus excelsior), des Pfaffenhütchens (Evonymus europaeus), der Rainweide (Ligustrum vulgare) und noch einiger anderen Sträucher. Sie nagen zunächst die Oberhaut weg, dann das darunter befindliche Blattfleisch, die Haut der Unterseite bleibt immer stehen und bräunt sich allmählich. Nach der ersten Häutung verlassen sie die Mine des Nachts und bewirken durch gezogene Fäden, daß sich die ausgefressene Blattspitze aufzieht und aufrollt. So treiben sie es allnächtlich, kriechen am Tage wieder in die Rolle und verzehren die Blattmasse mit Ausnahme der unteren Haut. Zwischen je zehn oder zwölf Tagen häuten sie sich, und zwar dreimal, hierauf suchen sie sich ein frisches Blatt, behandeln es wie das frühere und lassen sich nach der gleichen Zeit herab, um in der Erde die Verpuppung in einem sehr dünnen Gewebe zu bestehen. Die gelbbraune, spindelförmige Puppe endigt stumpf, die Scheiden ihrer Fühler und Hinterbeine reichen bis zur Spitze, letztere nicht genau so weit; sie liefert in vierzehn Tagen (Ende Juni oder anfangs Juli) den Schmetterling. Gegen Abendfliegen diese um die Futterpflanze, um sich zu paaren, und sofort wird der Grund zu einer zweiten Brut gelegt, deren Raupen es vorzugsweise sind, welche die oben geschilderten Verunglimpfungen vornehmen; sie gelangen vor Beginn des Winters bis zur Verpuppung. Im nächsten April und Mai fliegen ihre Schmetterlinge aus. Jedes Weibchen kann durchschnittlich hundert Eier legen.

Der zierliche Falter sieht staubgrau aus und hat ungemein lange, gleichgefärbte Fransen an seinen Flügeln, besonders am Innenwinkel der vorderen, die wie ein hoher Kamm hervortreten, wenn sie in der Ruhelage dachartig den Leib verstecken. Die Vorderflügel erscheinen gescheckt durch sechs silberweiße Querbinden, deren drei hinterste feiner und unvollständiger sind als die vorderen. Die grau und weiß geringelten Fühler erreichen die Länge der Vorderflügel, die anliegend beschuppten und daher dünnen Lippentaster stehen schwertförmig vor dem glatten, runden Kopfe, ihr Endglied spitzt sich zu und bildet die Hälfte ihrer ganzen Länge; Rollzunge und Kiefertaster sind deut lich. Eine interessante Stellung nimmt das Mottchen am Tage ein, wenn es schläft. Der Körper ist schräg aufgerichtet und ruht auf den beiden langen Vorderbeinen, deren Kniee in einer Fluchtlinie mit der Stirn liegen, die Füße greifen weiter hinten Platz, von den anderen Beinen sieht man nichts, weil sie sich zwischen Leib und Flügel verbergen, an deren Fläche nach außen angedrückt der geringelte Fühlerfaden in schnurgerader Linie nach hinten zieht. Die Flügelspannung beträgt durchschnittlich 11,5 Millimeter.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 437-438.
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