Gemeiner Ameisenlöwe (Myrmeleon formicarius)

[490] Die interessanten Ameisenlöwen (Myrmeleon oder richtiger gebildet Myrmecoleon) erkennt man leicht an den kurzen, platt gedrückten, nach vorn keulenförmig erweiterten Fühlern und an den lang gestreckten, in eine Spitze ausgezogenen, unter sich fast gleichen vier Netzflügeln; die Spitze dieser und die Fühlerbildung sind die beiden sofort in die Augen springenden Unterscheidungsmerkmale zwischen diesen Kerfen und den in der Körpertracht am nächsten stehenden Wasserjungfern. Die runden, ungetheilten Augen quellen stark hervor und lassen den kurzen Kopf breit erscheinen, seine hornigen Kinnbacken befähigen sehr wohl zum Beißen. Das zweite und dritte Glied der unter sich gleich gebildeten Füße ist viel kürzer als das erste und die Endsporen der Schienen biegen sich nicht hakig um. Beim gemeinen Ameisenlöwen oder der Ameisenjungfer (Myrmeleon formicarius) bilden einige dunkle Fleckchen auf den Flügeln, die abwechselnd heller und dunkler gefärbten Adern derselben und die im Vergleiche zu Kopf und Mittelleib zusammengenommen kürzeren Fühler die Artenmerkmale. Das ganze Thier ist vorherrschend grauschwarz, an Kopf und Brustkasten gelbfleckig, an den Hinterrändern der Leibesringe ebenfalls licht- und an den Beinen gelbbraun. Es hält sich vorzugsweise in den Nadelwäldern des mittel- und süddeutschen Sandlandes auf und schwärmt vom Juli bis in den September. Am Tage sitzt es still mit dachartig über den Hinterleib gelegten Flügeln, wenn aber die Sonne sinkt, wird es lebendiger und bewegt sich in langsamem, taumelndem Fluge, Nahrung und sein anderes Ich suchend. An sonnigen Hängen, besonders unter dem Schutze hervorstehender Baumwurzeln, schlägt die Larve ihre Wohnung auf, welche in einem kleinen Trichter besteht, in dessen Grunde sie versteckt, mit emporgestreckten Zangen auf Beute lauernd, sitzt. Diese besteht in Ameisen und anderen Kerfchen, welche durch einen Fehltritt in den Trichter hinabrutschen. Sofort werden sie ergriffen und ausgesogen. Wir sehen sie, diese drohenden Zangen, in der beistehenden Abbildung und würden bei näherer Untersuchung ihren merkwürdigen Bau richtig deuten. Der obere Theil derselben stellt den innen dreizähnigen Oberkiefer dar, welcher an der Unterseite ausgehöhlt ist, um die feinen, borstenförmigen Unterkieferhälften aufzunehmen, mit welchen zusammen das Saugwerk hergestellt ist. Die Taster an letzteren fehlen, die der Lippe dagegen bestehen aus einem auffallend großen, elliptischen Grundgliede, dem drei kleinere, cylindrische Glieder folgen, und befinden sich nicht zwischen den Kiefern vorwärts gerichtet, sondern seitlich unter ihnen. An den Ecken des großen, nahezu herzförmigen Kopfes sitzen je sieben Augen und Fühler, welche die Länge der Lippentaster nicht erreichen. Die Beine enden in zwei große Krallen ohne Haftlappen. Am plumpen Körper fallen der halsartig verdünnte Vorderbrustring, die starke Behaarung, welche seitwärts an Warzen büschelartig auftritt, und die buckelige Höhe der Hinterleibswurzel sogleich in die Augen. Das letzte kugelige Leibesglied läuft nicht in Hornplättchen, sondern in beborstete Warzen aus.

Der eben beschriebene »Ameisenlöwe« legt unter stoßweißen, rückwärts gerichteten Bewegungen seinen Trichter an. Er beginnt den Bau mit einem kreisförmigen Graben, dessen Größe durch seine eigene bedingt wird und dessen Außenrand gleichzeitig den der künftigen Wohnung absteckt. In der [490] Mitte steht demnach ein stumpfer Sandkegel, welchen er auf eine eben so fördernde, wie sinnreiche Weise zu beseitigen versteht. Er wühlt sich da, wo er den ersten Kreis eben vollendete, mit dem Hinterleibe in den Sand und in einer immer enger werdenden Schraubenlinie zurückweichend, bringt er mit dem nach innen liegenden Vorderfuße den Sand auf seinen breiten, schaufelartigen Kopf und wirft ihn mit demselben so gewandt und mit solcher Gewalt über den Außenrand des ersten Grabens, daß er mindestens fünf Centimeter weit wegfliegt. Dann und wann ruht er aus; ist er aber bei der Arbeit, so erzeugen die flinken Bewegungen einen ununterbrochenen Sandregen. Der innere Kegel nimmt mit jedem Umgange immer mehr ab, wie sich von selbst versteht, und schwindet vollständig mit der Ankunft des kleinen Minengräbers im Mittelpunkte, wo er sich mit Ausschluß der Zangen einwühlt und Platz greift. Um sich die Arbeit, welche eine bedeutende Muskelkraft in Anspruch nimmt, zu erleichtern, geht er nicht von Anfang bis zu Ende in derselben Richtung, sondern dreht sich von Zeit zu Zeit um, damit einmal das linke Bein Handlangerdienste verrichte, wenn es bisher das rechte gethan hatte. Kommen gröbere Sandkörner in den Weg, was nicht ausbleibt, so werden sie einzeln aufgeladen, noch größere, welche sich nicht werfen lassen, wohl gar auf dem Rücken hinausgetragen. Man hat beobachtet, daß in dieser Hinsicht mißlungene Versuche öfter wiederholt wurden, und daß erst dann, wenn sich alle Bemühungen erfolglos zeigten, ein anderer Platz in der Nachbarschaft ausgesucht wurde, um hier die Arbeit in Erwartung eines glücklicheren Erfolges von vorn zu beginnen. Weil der Körperbau den Ameisenlöwen zu weiteren Wanderungen nicht befähigt, so sorgte die umsichtige Mutter schon dafür, daß sie nur an solchen Stellen ihre Eier in den Sand ausstreute, wo der Nachkommenschaft die Möglichkeit gegeben ist, den zum ferneren Gedeihen nöthigen Bau ausführen zu können. Es bedarf wohl kaum der Erinnerung, daß der Ameisenlöwe nicht einen und denselben Trichter für immer bewohnt; wird er größer, so bedarf er eines umfangreicheren, ganz abgesehen von Unglücksfällen mancherlei Art, welche denselben zerstören oder von dem Mangel an Nahrung, welche zur Anlage eines neuen auffordern.


Gemeiner Ameisenlöwe (Myrmeleon formicarius). a Ameisenlöwe, b, c Larve; nur b stark vergrößert.
Gemeiner Ameisenlöwe (Myrmeleon formicarius). a Ameisenlöwe, b, c Larve; nur b stark vergrößert.

Der Trichter einer erwachsenen Larve mißt 5 Centimeter in die Tiefe und etwa 7,8 Centimeter im Durchmesser des oberen Randes, doch sind diese Verhältnisse nicht beständig und richten sich gewiß theilweise nach der Beschaffenheit des Bodens. Nicht immer erlangt der unten im Grunde des Trichters verborgene Räuber seine Beute ohne Mühe und Kraftanstrengung; eine kleine Raupe, Assel, Spinne oder andere größere Thiere, welche so unglücklich waren, in den Abgrund zu rutschen oder durch einen Sandregen zum Herabgleiten gebracht wurden, wenn für sie noch Aussicht vorhanden war, sich oben zu erhalten, setzen natürlich mehr Widerstand entgegen und wehren sich tapferer als eine Ameise oder ein ihr gleich großes Käferchen. Bonnet erzählt ein interessantes Beispiel, welches nicht minder die Zähigkeit des Ameisenlöwen, als die rührende Fürsorge einer Spinne für ihre Eier bekundet. Eine Art (Pardosa saccata) dieser so mörderischen Gesellschaft lebt unter dürrem Laube und zwischen Gras und ist leicht an dem weißen, fast erbsengroßen Eiersacke zu erkennen, den sie im Frühjahre an dem Bauche angeklebt mit sich herumträgt und mit mehr Aengstlichkeit überwacht, als der größte Geizhals seinen Geldhaufen. Ein solches Spinnenweibchen trieb Bonnet in die Grube eines erwachsenen Ameisenlöwen. Dieser ergriff den Eiersack schneller, als die Spinne dem gefährlichen Winkel entrinnen konnte. Er zog nach unten, sie [491] nach oben, und nach heftigem Kampfe riß zuletzt der Sack ab. Die Spinne war indeß keineswegs gesonnen, ihren Schatz im Stiche zu lassen. Sie faßte ihn mit den kräftigen Kiefern und verdoppelte die Anstrengungen, ihn dem Gegner zu entwinden. Aber trotz aller Gegenwehr und allen Strampelns ließ ihn zuletzt der überlegene Feind unter dem Sande verschwinden. Mit Gewalt mußte sich jetzt Bonnet in das Mittel schlagen, damit die unglückliche Mutter nicht ihrer zukünftigen Brut zuliebe auch noch ein Opfer des Siegers werde; denn freiwillig ging sie nicht von der Stelle, wo sie ihr Theuerstes begraben wußte, und wäre jedenfalls später auch noch verspeist worden. Mit einer Biene, welcher man die Flügel ausgerissen hat, balgt sich der Ameisenlöwe eine Viertelstunde umher, und wirft man ihm seinen Bruder vor, so gilt ihm das auch gleich; er, fest im Sande sitzend, befindet sich stets im Vortheile. Die ausgesogenen Thierleichen werden herausgeschleudert, damit sie ihm nicht im Wege sind. So müssen Ausdauer und Schlauheit ersetzen, was dem Ameisenlöwen durch den Mangel anderer Naturanlagen versagt worden ist.

Mit Anfang Juni beginnen die erwachsenen Larven sich zu verpuppen. Zu dem Ende graben sie sich etwas tiefer unter die Spitze ihres Trichters ein, ziehen das Ende ihres Hinterleibes wie ein Fernrohr in eine weiche, bewegliche Röhre aus und spinnen damit weißseidene Fäden, welche die benachbarten Sandschichten in Form einer lockeren Kugel zusammenhalten. Die Innenwand ist zart und dichter austapeziert. Nun reißt die Larvenhaut im Nacken und die Puppe drängt sich daraus hervor. Sie ist schlanker als die Larve, gelblich von Farbe und braun gefleckt; die Scheiden der Flügel, Füße und Fühler hängen frei an ihr herab, wie bei jeder gemeißelten Puppe, und der ganze Körper ruht in gekrümmter Lage, damit ihm der Platz in der hohlen Kugel nicht mangele. Ausgebrütet durch den oft glühend heißen Sand, sprengt nach vier Wochen das fliegende Insekt seine Puppenhülse und nimmt sie beim Ausschlüpfen zur Hälfte aus dem vorher durchbohrten Gehäuse mit heraus. Die schlanke »Ameisenjungfer« erblickt das Licht der Welt nur in den Abendstunden, zum sicheren Belege für ihre nächtliche Lebensweise. Ich hatte in einem Sommer zahlreiche Kugeln eingetragen und fand allabendlich bis acht Stück Neugeborene in der Schachtel, konnte aber sicher darauf rechnen, daß am anderen Morgen einige davon verstümmelt waren, wenn ich sie über Nacht beisammen ließ. Die wenigen ihnen vergönnten Lebenstage fallen dem Fortpflanzungsgeschäfte anheim. Das befruchtete Weibchen legt eine geringe Anzahl von ungefähr 3,37 Millimeter langen, 1,12 Millimeter breiten, hartschaligen Eiern. Dieselben sind etwas gebogen, gelblich von Farbe, am dickeren Ende roth. Vor Winters noch kriechen die Lärvchen aus, richten sich in der angegebenen Weise häuslich ein und verfallen in der futterlosen Zeit tief unten im Trichter in den Winterschlaf. Sie sind wahrscheinlich im nächsten Juni noch nicht erwachsen, da sich gleichzeitig Larven verschiedener Größe und Puppen vorfinden. Häutungen der Larve wurden meines Wissens nicht beobachtet.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 490-492.
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