Dickfühlerige Kamelhalsfliege (Rhaphidia oder Inocellia crassicornis)

[494] Die Kamelhalsfliegen (Rhaphidia), wegen des gestreckten, sehr beweglichen ersten Brustringes so genannt, welcher übrigens nicht, wie bei den vorigen, eine geschlossene Walze darstellt, sondern die Seitenränder des Rückentheiles frei läßt, mögen in ihrer Eigenthümlichkeit durch die dickfühlerige Kamelhalsfliege (Rhaphidia oder Inocellia crassicornis) hier vorgeführt werden. Der Mangel der Nebenaugen und der Querader in dem dunkel rothbraunen Male der sonst glashellen Vorderflügel zeichnet sie vor allen anderen Arten aus und veranlaßte Schneider, sie bei seiner monographischen Bearbeitung dieser Gruppe zu einer besonderen Gattung zu erheben. Die Fliegen kriechen im Frühlinge, genannte erst im Juni, an Baumstämmen, vorherrschend an Eichen, umher und schauen nach kleinen Beutekerfen aus. Bemerkt die Raphidie ein Mückchen, eine Fliege in ihrer Nähe, so richtet sie die Vorderbrust hoch auf, senkt den Kopf und wagt mit ihren Zangen in dieser grimmigen Stellung einen Angriff. Bewegt sich das ausersehene Schlachtopfer in diesem Augenblicke, so prallt sie wohl auch erst einmal zurück, ehe sie zupackt. Dann bohrt sie ihre Zähne gierig ein und saugt, zieht sie dann und wann wieder heraus, bewegt sie rasch gegen einander, als wenn sie dieselben wetzen wollte, und fährt in ihrer Arbeit fort, bis nichts oder nur die Haut und die härteren Theile noch übrig sind. Hält man ihrer zwei in einem Raume gefangen, so weichen sie sich anfänglich aus, bald aber beißen sie sich und zuletzt frißt die stärkere die schwächere auf, wenn nicht für andere Kost gesorgt worden ist; eine einzelne kann mehrere Wochen fasten. Ihr hinten halsartig verlängerter und flachgedrückter Kopf erreicht durch die glotzenden Augen seine größte Breite und trägt zwischen ihnen die kurzen, fädlichen Fühler, welche aus zahlreichen Gliedern bestehen. Die Mundtheile treten ihrer Kürze wegen wenig hervor und haben fadenförmige, fünfgliederige Kiefer-, dreigliederige Lippentaster.


Dickfühlerige Kamelhalsfliege (Inocellia crassicornis). Natürliche Größe.
Dickfühlerige Kamelhalsfliege (Inocellia crassicornis). Natürliche Größe.

Eine lange, aufwärts gebogene Legröhre unterscheidet das Weibchen vom Männchen und große Beweglichkeit aller Gliedmaßen beide Geschlechter von den meisten anderen Gitterflüglern. Durch die kühnsten Windungen und ein Gebahren, als wollten sie alles mit ihren dreizähnigen Zangen vernichten, suchen sie sich zu befreien, wenn man sie zwischen den Fingern hält.

Die Larve lebt unter Baumrinde oder unter deren Moos- und Flechtenüberzuge, um sich von dem Geziefer daselbst zu ernähren. Sie ist ein schlankes und gewandtes, durch die nahezu quadratische Form des Kopfes und ersten Brustringes, wie durch deren alleinige Chitinbedeckung ausgezeichnetes Thier. Vier Augen – zwei oder sieben bei anderen Arten – und viergliederige Fühler sitzen jederseits des Kopfes. Die kurzen Beine bestehen außer den Hüften aus nur drei Gliedern und enden in je zwei Krallen. Wegen des verborgenen Aufenthaltes bekommt man die vorn heller oder dunkler braun, am Hinterleibe meist licht gestreifte Larve selten zu sehen, und erscheint sie ja einmal unter Mittag auf der Oberfläche, so sucht sie sich sofort zwischen Rindenschuppen zu verbergen, wenn sie sich beobachtet glaubt. In der Regel bewohnt nur eine einen Stamm. Schneider bemerkte bei einer Larve eine zweimalige Häutung und vermuthet eine öftere Wiederholung derselben. Gleichzeitig ward dabei die interessante Beobachtung gemacht, daß sich ein Fuß- und ein Fühlerglied, die beide durch die Bisse einer zweiten Larve verloren gegangen waren, bei der letzten Häutung wieder ersetzt hatten. Vor Beginn des Winterschlafes ist die Larve erwachsen, und im nächsten Frühjahre erweitern sich auch die beiden anderen Brustkastenringe, um die Verpuppung vorzubereiten. Im April oder später wird die letzte Larvenhaut abgelegt.

Die Puppe unterscheidet sich genau genommen von der Fliege nur durch die Ruhe, die wenig nach vorn gebogene Körperstellung und durch die noch unentwickelten Flügel; bei dem Weibchen schmiegt sich der Bohrer in seiner größeren Länge ebenso an den Rücken an, wie die Wurzel desselben am Bauche. Am elften oder dreizehnten Tage ist sie ausgefärbt, dann scheint sie zu erwachen und hat keine Ruhe mehr. Die bisher angezogenen Beine strecken sich und fangen an zu zappeln, schließlich [495] stellt sich die Nymphe auf dieselben und – läuft davon. Wo aber läuft sie hin? Es ist nicht weit; sie sucht nur das Freie und findet das Tageslicht bald. Jetzt setzt sie sich fest – die Flügelscheiden stehen ihr schon mehr vom Körper ab – und verharrt in dieser Weise sechs bis acht Stunden, gleichsam als wollte sie Kräfte sammeln zu ihrem letzten, dem Befreiungskampfe. Dieser beginnt endlich. Mit Hinterleib und Flügelscheiden stemmt sie sich an die Unterlage, dreht und wendet den Kopf und den langen ersten Ring des Mittelleibes, diejenigen Theile, welche nun einmal die Hauptrolle bei allen Bewegungen des vollkommenen Kerfes spielen, und beißt mit den Freßzangen um sich, als wollte sie ihrer bedrängten Lage Luft verschaffen. Diese kommt auch endlich, denn die Haut reißt im Nacken und die Geburt erfolgt, wie bei jedem anderen Kerfe. Außereuropäische Gattungsgenossen sind wenig bekannt.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 494-496.
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