Sippe: Morgenröthenthier (Eozoon)

[569] Im Anhange zu den Foraminiferen haben wir noch eines Wesens oder eines Körpers zu gedenken, über dessen Natur seit seiner vor etwa zehn Jahren erfolgten Entdeckung keine Einigung unter den Beobachtern und Beurtheilern zu erzielen gewesen ist. Wir meinen das Eozoon, das Morgenröthen-Thier, wie es in der Zuversicht, daß es ein Thier oder wenigstens ein organisches Wesen sei, von dem Entdecker Dawson genannt wurde. Der Name sollte bedeuten, daß es das älteste nunmehr bekannte organische Wesen sei und daß mit ihm, nach dem Stande unserer Kenntnisse, gleichsam die Morgenröthe der organischen Schöpfung anbreche. Als die ältesten der Versteinerungen führenden Schichten galten die silurischen Gesteine, eine Abtheilung der großen Grauwackenformation. In ihr liegen die Ueberreste einer Thierwelt, welche, falls sie wirklich die Uranfänge des Lebens repräsentirten, Darwins Ideen und Hypothesen über den Haufen werfen würden. »Wenn meine Theorie richtig«, sagt Darwin, »so mußten unbestreitbar schon vor Ablagerung der ältesten silurischen Schichten ebenso lange oder längere Zeiträume wie nachher verflossen, und mußte die ganze Erdoberfläche während dieser ganz unbekannten Zeiträume von lebenden Geschöpfen bewohnt gewesen sein.« Nun stand es unter den Geologen allerdings schon fest, daß die unter den silurischen Schichten liegenden, meist schiefrigen Gesteine ursprünglich gleich den versteinerungführenden Formationen neptunische Absätze seien und erst später unter Einwirkung von Feuer ihre jetzige Beschaffenheit angenommen hätten. Auch konnte man annehmen, daß zur Zeit ihrer ersten Bildung die Erde schon eine organische Bevölkerung hatte, aber man [569] dachte kaum an die Möglichkeit, die positiven Spuren davon aufzudecken. Das schien nun in frappanter Weise geschehen zu sein.

Wir verdanken diese Entdeckungen der geologischen Kommission für Kanada, und sie betreffen die tief unter den älteren silurischen Gesteinen liegende, mindestens zwanzigtausend Fuß dicke Schicht, welche man die untere laurenzische Formation genannt hat. Die kolossale Masse hat an verschiedenen Stellen ein verschiedenartiges Aussehen, obgleich sie offenbar desselben Ursprunges ist. Aber chemische und mechanische Einflüsse haben mancherlei Umänderungen hervorgerufen. An einer Stelle nun glaubte Dawson das Herkommen des Gesteines an einem schalenbildenden organischen Wesen zu erkennen, und Professor Carpenter bestätigte durch feinere Untersuchungen, daß der Fund uns mit einer kolossalen Form der Abtheilung der Wurzelfüßer beschenkt habe. Er gewann an günstigen, gut geschliffenen Stücken die Ueberzeugung, daß die massenhafte Bildung eine thierische, sagen wir lieber eine protistische sei, und daß das später ausgefüllte unregelmäßige Höhlensystem den Kammern der in unseren Meeren lebenden Foraminiferen entspräche. Den amerikanischen ganz ähnliche Formen des Eozoon sind in den entsprechenden Schichten Böhmens und Bayerns gefunden worden.


Canadisches Morgenröthenwesen (Eozoon canadense), schematischer Durchschnitt. Natürliche Größe.
Canadisches Morgenröthenwesen (Eozoon canadense), schematischer Durchschnitt. Natürliche Größe.

Vor Kurzem (1876) ist nun von einem Gesteinskenner, Hahn, sehr eingehend auseinandergesetzt worden, daß alle gröberen und feineren, die Gestalt und chemische Beschaffenheit des Eozoon betreffenden Verhältnisse sich rein aus mineralogisch-chemischen Gesetzen erklären ließen, und alles gegen die Annahme eines lebenden Wesens spräche. Damit ist die Angelegenheit aber noch nicht abgethan, indem Dawson neuestens abermals die organische Natur seines Eozoon verfochten hat. Was ich selbst an Präparaten und Zeichnungen aus der Hinterlassenschaft von Max Schultze gesehen habe, der kurz vor seinem vorzeitigen Tode sich sehr eingehend mit dem Eozoon beschäftigte, spricht ebenfalls für den organischen Ursprung.

Wir dürfen also an der Existenz des Eozoon noch festhalten. Es wirft dasselbe einen Morgenschimmer der Erkenntnis über die Beschaffenheit der Urorganismen und zeigt uns jene Einfachheit der Lebensverrichtungen und ihrer Substrate, welche ganz mit unseren Beobachtungen an noch lebenden Wesen und mit den Forderungen der Theorie übereinstimmen. Es zeigt eine Größenentwickelung, welche in dieser Gruppe später nicht wieder vorkam, ein Schwanken der Form und eine Unregelmäßigkeit, welche die Anhänger der Abstammungslehre nicht mit Unrecht in der Annahme bestärken müssen, es liege darin der Keim zum Zerfall in Varietäten und Arten. Es setzt endlich das Morgenröthen-Thier eine ihm ähnliche gleichzeitige Fauna voraus und leitet den Blick auf noch tiefere Formen und noch einfachere Formen hinüber, welche bis in die Gegenwart sich erhalten haben.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 569-570.
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