1. Abstammung.

[5] Es liegt im Geiste unserer Zeit, daß man es dem Adel, als dem gebornen Vertreter des conservativen Princips, überläßt, das Andenken seiner Vorfahren zu erhalten. Man ist nämlich zu viel mit der Gegenwart beschäftigt, zu sehr im Fortschreiten begriffen, als daß man sich um die guten Alten, die im Vergleiche mit uns so weit zurück waren, viel bekümmern könnte; was aber die Nachkommen betrifft, so denkt man nur an ihr Fortkommen, hält es also auch nicht der Mühe für werth, die Erinnerung an ihre Voreltern auf sie fortzupflanzen. Vormals war es viel häufiger, daß auch der Bürgerliche etwas von seinen Ahnen wußte, und es ist auch, wie mich dünkt, sehr erklärlich, daß der Mensch, wie er überall von den Erscheinungen auf die Ursachen zurückgeht, auch so viel als möglich von seiner Abstammung zu erfahren begehrt. In Esthland hatten die Bauern nur Vornamen, denen zur nähern Bezeichnung statt der Familiennamen der Name des Gutes, zu welchem sie gehörten, oder des Platzes, wo ihre Hütte stand, zugesetzt wurde. Mein Freund, Probst Roth zu Kannapäh, stellte seiner Gemeinde vor, daß es des Menschen würdiger sei, das Andenken der Vorfahren durch Vererbung ihrer Namen zu ehren, als sich gleich einer Sache nach den zufälligen äußeren Verhältnissen nennen zu lassen, und diese Vorstellung war für die Leute so[5] einleuchtend, daß sie sämmtlich Familiennamen verlangten, die sie jedoch nicht selbst sich beizulegen wagten, sondern die sie nur von Dem, der ihnen das Reich des Uebersinnlichen aufschloß, empfangen wollten, wo denn der gute Probst Mühe hatte, aus der Naturgeschichte genug Namen für sie in der esthnischen Sprache zu finden. Wie nun der Mensch beim ersten Schritte zur Cultur es zur Bezeichnung seiner Persönlichkeit für nothwendig erachtet, den Namen seines eigenen Stammes zu tragen und fortzupflanzen, so wird er beim Fortschreiten in der Bildung auch dessen Geschichte zu erfahren und auf die Nachkommen überzutragen suchen. Im vorigen Jahrhunderte besaßen manche Familien eine große Bibel, in welcher der Hausvater den Tag der Geburt, der Verheirathung und des Todes der Seinigen verzeichnete, da er mit allen diesen Ereignissen religiöse Vorstellungen verband, und mit der Bibel wurde diese Sammlung von Nachrichten auf die Kinder vererbt; dies hat jetzt aufgehört, da das Erbstück einer solchen Familienbibel verschwunden, auch die Beziehung menschlicher Schicksale auf die Religion seltner geworden ist. Sodann wurden vormals Begebenheiten von besonderer Wichtigkeit, namentlich Promotionen, Hochzeiten und Todesfälle häufig durch gedruckte Gedichte oder auch Reden gefeiert, so daß dadurch eine Urkundensammlung für die Familiengeschichte gewonnen wurde. Dergleichen Carmina schrumpften aus ihrem anfänglichen Folio nach und nach in Quart, dann in Octav zusammen und wichen endlich den simpeln prosaischen Anzeigen auf offenen Karten, welche in neuester Zeit, ohne darum an Inhalt zu gewinnen, wieder zu Octavdoppelblättern sich ausdehnen und das, was sie veröffentlichen sollen, in Form eines versiegelten Billets der Person, auf welche die Adresse lautet, anvertrauen: jene Karten finden neben den Besuchskarten ihren Platz und verschwinden mit diesen, wenn die Ueberfüllung aufzuräumen gebietet; die Billets aber gehen nebst den ähnlichen Einladungen zu einem Diner, wenn dieses vorüber ist, noch früher im Strome der Zeit unter.

Ich habe nun vor den meisten meiner Zeitgenossen, namentlich vor den Jüngern derselben, den Vortheil voraus, daß[6] ein vom Jahre 1638 anhebendes Geschlechtsregister und eine mit dem Jahre 1723 beginnende Sammlung von Familiengedichten mir vorliegt. Hiernach hatte denn Simon Burdach, ein Bauer zu Rußdorf bei Crossen, einen Sohn, Namens Andreas, welcher 1638 geboren, 1665 Pfarrer zu Kohlo in der Niederlausitz wurde und 1723 starb. Als Probe der damals üblichen Formen setze ich von einem der vier dem Verstorbenen gewidmeten Gedichte den Titel mit Hinweglassung der Lapidarform her: »Mit seiner erwiesenen Freudigkeit im Tode wolte Tit. pleniss. Herr Andreas Burdach, Hochverdienter Seelen-Sorger der Christlichen Kirch-Gemeinde zu Kohlo bei Guben, und der gesambten Priester-Fraternitaet in der Gubenschen Dioecese würdiger Senior, bei seinem vorhin sehnlichst verlangten und nun nach bereits zurückgelegten 85sten Jahre seines rühmlichen Lebens und 58sten seines treu geführten Ambtes auf eine dreitägige Niederlage d. 13. Januar. Anno 1723 erfolgten seligen Ausgange aus dieser Welt seine hinterlassene betrübte Wittwe und sämbtlichen Kinder auffrichten, auch unter diesen besonders seinen Amts-Substitutum und Sohn befriedigen, welches zum Ruhm des selig Verstorbenen hierdurch entdecket wird von dem letzerwehnten«.

Der Verfasser dieses Gedichtes, Johann Christian, der sechs Brüder und vier Schwestern hatte, wurde der Nachfolger seines Vaters, feierte 1761 sein Amtsjubiläum, wobei außer zwölf andern Gedichten auch eines von ihm selbst erschien, hatte zehn Kinder und starb 1770. Sein Sohn Johann, Andreas Gottfried folgte ihm im Amte, und auch dieser hatte nach seinem 1804 erfolgten Tode wieder einen Sohn, Christian Gottfried Heinrich, der 1823 starb, zum Nachfolger im Amte, so daß die Pfarre zu Kohlo 158 Jahre hindurch durch die Familie Burdach besetzt war und vom Vater auf den Sohn überging.

Mein Vater, Daniel Christian, Sohn des Pfarrers Johann Christian, 1739 geboren, studirte 1761 bis 1766 in Leipzig und 1767 in Berlin (unter Meckel, Walter und Gerhard) Medicin, habilitirte sich hierauf als Docent an der[7] Universität Leipzig durch Vertheidigung seiner Dissertation de vi aeris in sono und wurde 1768 Doctor der Medicin; seine Inauguraldissertation, de laesione partium foetus nutritioni inservientium, abortus causa, mit zwei Kupfertafeln, ist in Schlegels sylloge operum minorum praestantiorum ad artem obstetrtiam spectantium (Vol. II. p. 195-222) abgedruckt. Nach Allem, was ich von seinen Collegen und sonst im Publikum über ihn gehört habe, war er wegen seiner Rechtschaffenheit und Geschicklichkeit hoch geachtet. Aus den Erzählungen meiner Mutter weiß ich, daß er ungemein wohlwollend, in hohen Grade uneigennützig, Andern nach Kräften zu helfen stets bereit war und nicht selten durch die Folgen seiner Gutmüthigkeit in Verlegenheit gesetzt wurde; so z.B. wurde er eines Tages, als er auf dem anatomischen Theater allein arbeitete, von einem preußischen Soldaten, der, um zu desertiren, sich nach einem Verstecke umsah, flehentlich um die Erlaubniß gebeten, sich hier verbergen zu dürfen, indem die Truppen, welche Leipzig besetzt gehalten hatten, am folgenden Tage abmarschiren würden; er gab aus Mitleid nach, mußte aber, da die Truppen wider Erwarten noch mehrere Tage in Leipzig blieben und den zahlreichen Deserteurs streng nachgeforscht wurde, in großer Besorgniß, sein Geheimniß zu verrathen, den Menschen so lange eigenhändig verpflegen. Ebenso erfuhr ich, daß er mit einem heitern Sinne und mit Empfänglichkeit für die Freuden des Lebens ein tiefes religiöses Gefühl verband, auch von einem, dem Verstande unbegreiflichen, innern Zusammenhange der scheinbar von einander ganz unabhängigen Begebenheiten überzeugt war, wie er denn namentlich über bestimmte Vorzeichen von Ereignissen mehrere Erfahrungen gemacht zu haben glaubte; daß er endlich sowohl im Studium seiner Wissenschaft sehr eifrig, als auch in seinem Wirkungskreise als Lehrer und Arzt außerordentlich thätig war. Er beschäftigte sich unter Anderem auch viel mit Anatomie und hielt über diese, sowie über Geburtshülfe, Vorlesungen, in welchen er als Privatdocent freilich nur Chirurgen (damalige Barbiergesellen) zu Zuhörern haben konnte. Auch gab er (Leipzig 1776) »Levrets Versuch über[8] den Mißbrauch der allgemeinen Grundsätze und wider die Vorurtheile in der Hebammenkunst« und »Paulins Beobachtungen aus der Arzneikunst« übersetzt und mit Anmerkungen versehen heraus.

Im Jahre 1768 verheirathete er sich mit Karoline Sophie Koch, Tochter eines Pächters, nachmaligen Gutsbesitzers in dem drei Meilen von Leipzig gelegenen Städtchen Brehna.

Unter den beiden Familien, die hierdurch mit einander in Verbindung traten, fand eine bedeutende Verschiedenheit Statt. Die Burdachs, deren Geschlecht seinen Wohnsitz meist in solchen Gegenden der Niederlausitz hatte, deren sandiger Boden nur spärliche Früchte gewährt und der Entwickelung körperlicher Stärke weniger günstig ist, waren meist nur von mittlerer Größe, schmächtig, nicht muskelstark, aber rührig, von mildem, freundlichem Sinne; bei geistiger Regsamkeit strebten sie nicht nach Reichthum und blieben den Welthändeln fremd; die Begabteren unter ihnen richteten ihr Studium vornehmlich auf Religion und Naturwissenschaft und wurden meist Geistliche oder Schullehrer, Aerzte oder Apotheker, während die minder Fähigen mit einem bescheidenen Handwerke sich begnügten. Das Kochsche Geschlecht dagegen, meist in einer fruchtbaren Ebene mit reichem Weizenboden lebend, zeichnete sich im Ganzen genommen durch hohen Wuchs, kräftigen Körperbau, eine gewisse Derbheit und Lebhaftigkeit, die leicht in Heftigkeit überging, und Tüchtigkeit für das Geschäftsleben aus; die Mehrzahl seiner Glieder bestand aus Landwirthen, Rechtsgelehrten und Beamten. Konnte dieses Geschlecht von ersterem einer leidenschaftlichen Hitze und Unzartheit beschuldigt werden, so durfte es demselben dagegen einen Mangel an Energie vorwerfen. Ich finde die Grundzüge meiner Individualität in der väterlichen Abstammung, unter dem Einflusse des Familiencharakters von mütterlicher Seite.

Die glückliche Ehe meiner Eltern dauerte nur acht Jahre. Mein Vater hatte eine Wunde an seinem Fuße vernachlässigt, die zu einem bösartigen Geschwüre ausartete und ein Brustleiden zur Folge hatte, zu welchem ein zu frühzeitiges und zu lebhaft[9] betriebenes Flötenblasen den ersten Grund gelegt haben mochte. Seine Collegen riethen, wie mir einer derselben bekannte, den damals in der Medicin gangbaren Grundsätzen gemäß, nur zu Blut reinigenden, Säfte verdünnenden und schwächenden Mitteln, unter deren fortgesetztem Gebrauche sich die Hektik ausbildete. Er starb als Weiser. Am Abende des dritten Juni 1777 sagte er meiner Mutter, daß er in dieser Nacht noch sterben werde, tröstete sie durch Hinweisung auf ein höheres Leben und beruhigte sie wegen ihres Schicksals, indem er über ihre Hülfsquellen sprach, ihr Rathschläge in Betreff ihrer künftigen Einrichtung ertheilte und sie zu Vertrauen ermahnte; er ging dann noch auf Kleinigkeiten über, fragte, ob für die Nacht ausreichende Lichter im Hause wären und gab an, welcher Lohndiener am folgenden Morgen mit dem Ansagen seines Todes beauftragt, zu welchen Personen überhaupt und zu welchen er zuerst geschickt werden sollte. Gegen 4 Uhr Morgens verschied er, in einem Alter von 38 Jahren, während sein Vater 82, sein Großvater 85 Jahre alt geworden war.

Nachdem vier Kinder dieser Ehe in ihrem ersten Lebensjahre gestorben waren, hatte meine Mutter, einer mir mitgetheilten vertraulichen Aeußerung gegen einen Freund zufolge, sich von Neuem nach Mutterglück gesehnt, und besonders, da das beginnende Kränkeln meines Vaters sie an die Möglichkeit, ihn zu verlieren, hatte denken lassen, sich einen Sohn gewünscht, um eines Gegenstandes für ihr der Liebe bedürftiges Herz gewiß zu sein. Und ihr Wunsch wurde erfüllt, indem sie mich am 12. Juni 1776 gebar. Ich kam des Morgens um 4 Uhr zur Welt, als eben die Reveille, freilich nur von den Leipziger Stadtsoldaten, unter den Fenstern wirbelte.

Mein Vater hatte sich in seinem Wirkungskreise Achtung und Vertrauen erworben; eine einträgliche Praxis und eine Professur war ihm gewiß. Aber noch war er Privatdocent und seine Praxis besonders nur unter den Unbemittelten ausgebreitet gewesen, auch in dem letzten Jahre durch die Krankheit die Einnahme vermindert und die Ausgabe vermehrt worden. So war denn bei seinem Tode meine Mutter ohne alles Vermögen,[10] da ihre Mitgift schon in den ersten Jahren ihrer Ehe mit zu Bestreitung der häuslichen Bedürfnisse hatte verwendet werden müssen. Bei ihrem Vater fand sie keine Hülfe: es war ihm verdrießlich, daß ein Theil des von ihm erworbenen Vermögens in ihrer Mitgift darauf gegangen war, und noch mehr an sie zu wenden, fand er sich nicht berufen; in sein Haus würde er sie wohl aufgenommen haben, allein meine Mutter wollte weder ihre Selbstständigkeit aufgeben, noch auch den Ort verlassen, wo mehr für meine Erziehung geschehen konnte und blieb in Leipzig. Hier erhielt sie denn aus der Universitätscaffe eine Wittwenpension, die, so viel ich mich erinnere, nicht viel über 60 Thaler jährlich betrug; zwei vormalige Collegen und Freunde meines Vaters, Prof. Gehler und Dr. Börner, gaben ihr auch einen kleinen Jahrgehalt, so daß ihre bestimmten Einkünfte zusammen gegen 100 Thlr. ausmachten. Zu einem anständigen, ihren früheren Verhältnissen angemessenen Leben und besonders auch zu Bestreitung der Kosten, welche sie für mich und meine Erziehung verwendete, reichte dies natürlich bei Weitem nicht hin und sie mußte das Fehlende durch weibliche Handarbeit erwerben. Dabei erleichterte sie ihren Haushalt theils durch Vermiethung einiger zu ihrer Wohnung gehörigen Zimmer, theils dadurch, daß sie Studirende gegen ein billiges Kostgeld an ihrem Tische speisen ließ. Zuweilen erhielt sie zu Neujahr durch Vermittelung von Freunden meines Vaters ein Geschenk von der Loge Minerva. An ihrer Mutter aber fand sie die beste Stütze, wenn es nicht materiell möglich war, so doch geistig. Sie unterhielt mit ihr einen ununterbrochenen wöchentlichen Briefwechsel: jeder Freitag Nachmittag wurde in freudiger Erwartung zugebracht, bis der Brehnische Bote mit einem Briefe, zuweilen noch mit einem Päckchen Victualien erschien, in welchem dann und wann, besonders vor Festtagen, auch einige Thaler versteckt waren. Denn meine Großmutter hatte, da ihre übrigen Kinder in guten Umständen sich befanden, keine anderen Sorgen, als für die geliebte Tochter, die allein arm war, und wendete ihr, soviel sie vermochte, an Unterstützung zu, was sie nicht allein vor ihrem Gatten, sondern meist auch vor ihren[11] übrigen Töchtern verheimlichen mußte; wo sie aber nichts geben konnte, tröstete sie und erleichterte zugleich ihr Herz durch Klagen über die Rauheit und Härte meines Großvaters, wo sie denn wieder in den Briefen meiner Mutter Trost fand. Dies schöne Verhältniß zwischen Tochter und Mutter bestand bis zum Tode der letzteren und gewann noch dadurch an Interesse, daß es von Niemandem ganz durchschaut wurde.

Meine Mutter, von kleinerem Wuchse und zarterem Körperbaue als ihre Geschwister, hatte feine Gesichtszüge, eine schön gewölbte Stirn, sprechende hellblaue Augen, blondes Haar. Die geistige Lebendigkeit, welche sich schon in ihrem Aeußern ankündigte, lernte man in ihrem Umgange bald näher kennen. Sie liebte die Lectüre und den Umgang mit gebildeten Männern; bei ihrem scharfen Verstande wußte sie auch in beiderlei Hinsicht die rechte Wahl zu treffen. Schon im väterlichen Hause hatte sie fleißig gelesen und bei ihrem treuen Gedächtnisse unter Anderem aus den »Gesprächen im Reiche der Todten« sich viel Kenntnisse in der Geschichte verschafft, die sie auch späterhin durch Aufmerksamkeit auf die jedesmaligen Zeitereignisse vermehrte, wobei denn natürlich auch das Familienverhältniß der Regentenhäuser besonders von ihr beachtet wurde. Hatte sie ein gutes Buch, so war sie unermüdet im Lesen, und da sie dabei stricken konnte, so war ihr auch diese Arbeit am liebsten. Die Tischgesellschaft war ihr, abgesehen von dem kleinen ökonomischen Vortheile, wegen der dabei geführten Gespräche viel werth und sie nahm, so lange dieselbe nicht auf einen reinwissenschaftlichen Gegenstand sich richtete, fortwährend den lebhaftesten Antheil. Sie war von ächter Religiosität durchdrungen und verlangte bei ihren aufgeklärten Begriffen zu ihrer Erbauung immer etwas Geistreiches. Einen vorzüglichen Genuß gewährte ihr daher eine den Verstand wie das Herz beschäftigende Predigt; gewöhnlich besuchte sie die Universitätskirche, wo die akademischen Docenten der Theologie abwechselnd predigten, traf aber hier noch eine strenge Auswahl; während sie z.B. eine Predigt von Morus nie versäumte, ließ sie manchen andern Professor ungehört und suchte dafür Erbauung in[12] der Thomaskirche bei Rosenmüller, oder in der reformirten bei Zollikofer, noch häufiger aber in der katholischen bei Pater Schneider, der durch Verbindung von Gedankenreichthum mit einem lebhaften, von klangvoller Stimme und treffender Declamation unterstützten Vortrage so sehr ansprach. – Sie war durchaus menschenfreundlich und freute sich, wenn sie Jemandem nützlich werden konnte. Bei treuer Liebe gegen Eltern und Geschwister, insbesondere gegen ihre beiden jüngsten Brüder, die während ihrer Studienzeit bei ihr wohnten, bewies sie anfangs einigen Lehrern, nachmals einigen Freunden von mir unter den Studirenden die aufrichtigste Theilnahme, indem sie ihnen sowohl mütterlichen Rath ertheilte, als auch, wo sie konnte, half. Ein junges, durch angenehme Bildung und Sittlichkeit ausgezeichnetes Mädchen, welches sie in ihren Dienst genommen hatte, erwarb sich ihre Gunst in dem Grade, daß sie es als ihre Pflegetochter behandelte und erzog, wofür sie denn auch die Freude hatte, es nachmals als Gattin eines geachteten und wohlhabenden Mannes zu sehen. – Da sie bei diesen Eigenschaften noch eine große Arbeitsamkeit besaß, so lebte sie in ihrem beschränkten Verhältnisse im Ganzen sehr heiter. Sie stand des Morgens früh, den ganzen Sommer über um 4 Uhr, auf und ging sogleich an die Arbeit, wobei sie zuerst ein geistliches Lied halb laut sang oder las, was sie für den ganzen Tag erheiterte und stärkte. Lectüre und Gespräche halfen die Arbeit erleichtern. Vor Schlafengehen pflegte sie ihr Pensum für den folgenden Tag sich aufzugeben, indem sie soviel Garn abgewickelt auf dem Tische ausbreitete, als sie morgen aufzustricken glaubte, wobei sie denn gemeiniglich die Freude hatte, ihre Forderungen an sich durch die Leistung noch zu übertreffen. Sonntags setzte sie die Arbeit nur bis zur Kirchenzeit fort; beim Mittagsessen besprach sie die gehörte Predigt, je nach ihrem Gehalte, mit mehr oder weniger Interesse, und den Nachmittag brachte sie bei ihrer Schwester, der Gattin des Advocat Hänsel, zu, wo denn zuerst ebenfalls über die heutige Predigt berichtet wurde.[13]

Quelle:
Burdach, Karl Friedrich: Rückblick auf mein Leben. Selbstbiographie. Leipzig 1848, S. 5-14.
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