Der Fuchs

[57] Die Vorlesungen begannen in der zweiten Hälfte des Oktobers. Am 19. November wurde ich von dem Prorektor der Universität, dem Professor der Theologie Karl Ullmann, mit[57] feierlichem Handschlag in die Matrikel der Ruperto-Carola aufgenommen.

Als ein unschuldiges Füchslein lebte ich zunächst nur meinem Studium. Punkt 8 Uhr morgens war ich regelmäßig auf dem Weg zur Anatomie. Ich trug einen braunen Flausrock, auf dem Haupt eine leichte Mütze, um den Hals eine lange seidene Binde, breit und hoch geschlungen, und in der Rechten den Stolz des Füchsleins, eine lange, fast auf den Boden reichende, dampfende Tabakspfeife.

Das Rauchen bekam mir nicht gut, aber ich rauchte doch, nicht um des Tabaksdampfes und seines Duftes willen, sondern einzig der Tabakspfeife selbst wegen, sie war das Abzeichen des freien Musensohns:


»Knaster, den gelben,

Hat uns Apollo präpariert,

Und uns denselben

Rekommandiert.«


Der Studiosus trug die Tabakspfeife bald kurz bald lang, das Füchslein möglichst lang, der Korpsstudent mit Quasten in den Farben seiner Verbindung. Je »krasser« der Fuchs, d.h. je kürzer zuvor er von der Schule abgegangen war, desto größer die Lust, wie die olympischen Götter auf dem Wolkensteg, mitten im Qualm und Dampf der Tabakspfeife auf der Straße einherzusteigen.

Die Wände der Studentenzimmer – Buden genannt – waren häufig mit Tabakspfeifen jeder Größe und von mancherlei Stoff und Gestalt behangen, außerdem mit Hiebwaffen, namentlich Schlägern, und mit Bändern in den Farben der Verbindung, sowie zahlreichen Silhouetten, auch einzelnen Steindruckbildern von Freunden und Bekannten.

Der Verbrauch von Zigarren stand hinter dem von Varinas und Kanaster, in Rollen zum Rauchen aus der Pfeife, weit zurück. Die Vorliebe der akademischen Jugend für die Tabakspfeife hatte in Heidelberg einem Zweige der Porzellanmalerei zu hoher Entwicklung geholfen und ihn lohnend gemacht; es gab Künstler auf diesem Gebiete, die auf den Pfeifenköpfen[58] vortreffliche Kopien berühmter Gemälde lieferten, namentlich aber mit dem Einzeichnen von Wappen und Zirkeln der Verbindungen und den Namen der Mitglieder viel Geld verdienten. Man beschenkte sich gegenseitig zum Andenken mit solchen Pfeifenköpfen. – Das Wirtshaus zur Molkenkur ist die Schöpfung eines Pfeifenmalers namens Wagner.

Das Pfeifenrauchen erzeugte in Heidelberg auch einen besonderen Handelszweig, den Binsenhandel. Das durchaus notwendige, häufige Reinigen der Pfeifenrohre ließ sich am besten mittels sogenannter Binsen ausführen. Man besorgte das garstige Geschäft ungern selbst und überließ es, wie auch das Anrauchen der Pfeifenköpfe, das den Magen stark angreift, am liebsten den Herrendienern, von den Studenten Stiefelfüchse genannt, denen das Wichsen der Stiefel und das Putzen der Kleider oblag. – Unter Binsen verstand man die langen und steifen Halme einer hohen Grasart, der Molinia coerulea, die auf den Berghalden um Heidelberg in Menge wächst. Mit eigentlichen Binsen haben diese Grashalme wenig gemein. – Den Handel damit betrieb ein Mensch von kretinischem Aussehen, aber spekulierendem Sinn, der auf dem Schloßberg Haus und Familie besaß. Er schnitt und sammelte die reifen Halme, trocknete sie vollends, band sie zu Büscheln, brachte und verkaufte sie den Pfeifenrauchern in den Wirts- und Privathäusern. Er reiste sogar mit seiner Ware und war an vielen deutschen Universitäten als Heidelberger Binsenbub bekannt. Da er sich beschränkter stellte, als er war, so galt er bei den Musensöhnen für das Urbild geistiger Beschränktheit, und man nannte »Binsenwahrheiten« solche, die sogar der Binsenbub verstand. Der Ausdruck ist aus der Studentensprache in die Schriftsprache übergegangen, seine Herkunft dürfte vergessen sein.

Nach dem Tode Binsenbubs I übernahm sein jüngerer Bruder Binsenbub II das Geschäft. Er war das Zerrbild des Gründers dieser Dynastie und überbot ihn weit an groteskem Benehmen. Als die Tabakspfeife in den fünfziger Jahren mehr und mehr der Zigarre wich und der Binsenhandel nicht mehr rentierte, versuchte er es mit Blumensträußchen und überreichte[59] sie in Gasthöfen, öffentlichen Gärten und an den Bahnhöfen namentlich reisenden Damen unter lächerlichen Grimassen und Verbeugungen.

Nachdem auch diese Heidelberger Berühmtheit das Zeitliche gesegnet hatte, besorgte noch durch eine Reihe von Jahren den Vertrieb von Blumensträußchen eine zwerghafte weibliche Person, der es jedoch nicht gelang, sich die Gunst der Reisenden wie ihr männlicher Vorgänger zu erringen.

Die lithographische Kunst hat den Binsenbuben und einige andere sonderbare Figuren des alten Heidelbergs im Bilde aufgenommen, und die Altertümersammlung im Schlosse bewahrt es der Nachwelt auf. Diese darf doppelt dankbar sein, da die Gegenwart, wie es scheint, darauf verzichtet hat, an Stelle der alten Originale neue zu liefern.

Auf dem Schloßberg, wo die Binsenbuben hausten, wohnte die Bergkapelle, drei alte Musikanten, gebückte Gestalten mit Baßgeige, Fiedel und Klarinette, die in den Bierhäusern aufspielten. Als ich von der geliebten Musenstadt und meinen Freunden scheiden mußte, ließen wir sie zu uns kommen, sie spielten mir zum letztenmal die fröhlichen Studentenweisen.

Von den vielen kuriosen Gestalten war die wunderlichste der Hofrat Diehl, ein alter, angeblich durch das Lesen unverdauter philosophischer Schriften übergeschnappter Knopfmachergeselle, die Studenten tauften ihn Hofrat, und von da an hieß er stets der Hofrat Diehl, auch einfach der Hofrat. Er stand mit der studierenden Jugend auf dem Fuße des Kommilitonen und diskutierte mit ihr am Biertisch im gewähltesten Hochdeutsch über wurstliche und bierliche Prinzipien. Die Unterhaltung wurde sehr lebhaft, aber ernst geführt. – Die Studenten hatten ihm ein großherzoglich hessen-darmstädtisches Hofratsdiplom ausgefertigt und ihn veranlaßt, nach Darmstadt zu reisen, um sich bei Hofe untertänigst zu bedanken. Der Beamte, an den man ihn zunächst in Darmstadt wies, erkannte den Geisteszustand des verdrehten Philosophen, man versah den armen Hofrat mit dem nötigen Reisegeld und schickte ihn wieder nach Heidelberg zurück.[60]

Endlich sei noch des roten Fischers gedacht, der gleichfalls häufig abgebildet wurde, ein großer, starker, ehemaliger Fischer mit rötlichem Haar und rotbraunem Gesicht, ein Bramarbas, der auch im Winter mit aufgeschlagenen Hemdärmeln ging. Er hatte sich den Korps fast unentbehrlich gemacht, stellte bei den Mensuren die Wachen gegen Überfälle durch die Pedelle aus und sorgte für die nötige Vorbereitung bei Kommersen und Ausfahrten. Auch war ihm bei Kommersen ein stereotyper Trinkspruch vorbehalten: »Auf die Herren Füchse und das weibliche Geschlecht!« –

Die Tabakspfeifen sind heute von der Straße verschwunden, das Tabakrauchen ist geblieben. Neben dem Bier ist das Schmauchkraut der mächtigste Götze der Deutschen, ihm huldigt der Millionär und der Proletarier, vor ihm hat im Kampf um das Monopol Bismarck sogar die Waffen gestreckt.

Quelle:
Kussmaul, Adolf: Jugenderinnerungen eines alten Arztes. München 1960, S. 57-61.
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