Zweite Upanishad.

2,1.

[760] Nach einem Mythus über die rettende Kraft der Nṛisiṅhaformel (nachgebildet nach Pañcav. Br. 22,12; vgl, dazu oben S. 73) folgt die Identifikation ihrer vier Zeilen mit den vier Moren des Om-Lautes, wobei die entsprechende Stelle der Atharvaçikhâ-Upanishad (oben S. 727) wörtlich herübergenommen und den Zwecken unserer Upanishad angepasst wird.


Om!


Es geschah einmal, dass die Götter sich vor dem Tode, vor den Sünden und vor dem Samsâra fürchteten. Da nahmen sie ihre Zuflucht zu Prajâpati. Der reichte ihnen diesen an Narasiṅha gerichteten, in Anushṭubh verfassten Spruchkönig dar. Damit besiegten sie alle den Tod, überwanden sie alle die Sünde und überwanden sie den Samsâra. Darum, wer sich vor dem Tode, vor den Sünden und vor dem Samsâra fürchtet, der ergreife diesen an Narasiṅha gerichteten, in Anushṭubh verfassten Spruchkönig. So besiegt er den Tod, überwindet die Sünde und überwindet den Samsâra.

Von diesem Praṇava [dem Laute Om], fürwahr1, »die erste Mora, die Erde ist der a-Laut. Er ist, aus Versen bestehend, der Ṛigveda, ist Brahmán, die Vasu's, die Gâyatrî, das Gârhapatyafeuer«, – dieses ist die erste Zeile [des Spruchkönigs].

»Ihre zweite Mora, der Luftraum, ist der u-Laut. Er ist, aus Opfersprüchen bestehend, der Yajurveda, ist Vishṇu, die Rudra's, die Trishṭubh, das Dakshiṇafeuer«, – dieses ist die zweite Zeile.

»Ihre dritte Mora, der Himmel, ist der m-Laut. Er ist, aus Liedern bestehend, der Sâmaveda, ist Rudra, die Âditya's, die Jagatî, das Âhavanîyafeuer«, – dieses ist die dritte Zeile.[760]

»Die vierte, die Halbmora, die am Ende der Silbe ist, ist die Somawelt, der Om-Laut [dafür Atharvaçikhâ: ist der abgebrochene m-Laut]. Er ist, aus Atharvanliedern bestehend, der Atharvaveda, ist das Weltuntergangsfeuer, die Marut's, die Virâj, der Höchstweise, die glänzende«, – dieses ist die vierte Zeile des Sanges.


2,2.

Die Nṛisiṅhaformel als Spruchkönig (mantrarâja) hat fünf Attribute, nämlich Herz, Kopf, Haarlocke, Panzer und Geschoss, welchen die vier Zeilen der Formel nebst dem Praṇava als fünftem entsprechen. Diese Elemente werden im folgenden durcheinandergeflochten, so wie die Welten verflochten sind, deren Symbol sie sind.


Die erste Zeile ist achtsilbig, und [auch] die drei [übrigen] Zeilen sind achtsilbig; so ergeben sich zweiunddreissig Silben; denn zweiunddreissigsilbig ist die Anushṭubh; durch die Anushṭubh aber ist diese ganze Welt geschaffen worden, und durch die Anushṭubh wird alles wieder resorbiert.

Nämlich jener [Mantrarâja] hat fünf Attribute [a gâni: Herz, Kopf, Haarlocke, Panzer und Geschoss]; die vier Zeilen entsprechen den vier Attributen und das mit dem Praṇava versehene Ganze [des Spruches] dem fünften. Von den fünf [aus den Attributen gebildeten Formeln]: om dem Herzen namaḥ, om dem Haupte svâhâ, om der Haarlocke vashaṭ, om dem Panzer hum, om dem Geschosse phaṭ, wird die erste mit der ersten Zeile verbunden [ugram vîram mahâvishṇum, om hṛidayâya namaḥ], die zweite mit der zweiten [jvalantam sarvatomukham, om çirase svâhâ], die dritte mit der dritten [nṛisiṅham bhîshaṇam bhadram, om çikhâyai vashaṭ], die vierte mit der vierten [mṛityumṛityum namâmy aham, om kavacâya hum] und die fünfte mit der fünften [om! ugram vîram mahâvishṇum jvalantam sarvatomukham nṛisiṅham bhîshaṇam bhadram mṛityumṛityum namâmy aham, om astrâya phaṭ]; denn ineinander verflochten sind diese Welten, darum sind auch die Bestandteile [der Zeilen und der Formeln] miteinander verflochten. – »Om! diese Silbe ist die ganze Welt« (Mâṇḍ. 1); darum hat bei jeder Silbe [der obigen fünf Kombinationen] der Laut Om vorher und nachher seinen Platz [also: om u om, om gram om,[761] om vî om, om ram om usw.]; in dieser Weise sind, wie die Brahmanwisser lehren, die Silben aufzuzeichnen.


2,3.

Aufzählung der elf Worte der Formel, nebst Verherrlichung.


In diesem [Mantrarâja], soll man wissen, steht an erster Stelle ugram – und wer es weiss, geht zur Unsterblichkeit ein, – an zweiter Stelle vîram, an dritter mahâvishṇum, an vierter jvalantam, an fünfter sarvatomukham, an sechster nṛiṅsinham, an siebenter bhîshaṇam, an achter bhadram, an neunter mṛityumṛityum, an zehnter namâmi, an elfter aham.

Und wer es weiss, geht zur Unsterblichkeit ein.

Elf Worte hat die Anushṭubh, durch die Anushṭubh aber ist diese ganze Welt geschaffen worden, und durch die Anushṭubh wird alles wieder resorbiert. Darum soll man diese ganze Welt wissen als anushṭubh-artig; und wer es weiss, geht zur Unsterblichkeit ein.


2,4.

Die elf Wörter der Formel werden etymologisch erklärt und diese Erklärungen mit vedischen Zitaten verziert, die oft sehr wenig Beziehung zur Sache zeigen. Als Vorbild scheint Atharvaçiras 4, oben S. 720, vorzuschweben.


Es begab sich, dass die Götter zu Prajâpati sprachen:

Aber warum heisst es ugram? – Und Prajâpati sprach: Weil er durch seine Majestät alle Welten, alle Götter, alle Selbste, alle Wesen erhebt (udgṛihṇâti), fort und fort schafft, ausbreitet und wohnen macht, weil er von ihnen erhaben gemacht und erhoben wird, –


Preis dem berühmten jungen Wagenkämpfer,

Der wie ein grimmer Löwe schrecklich angreift;

Sei hold dem Sänger, Löwe, hochgelobter!

Andre als uns lass deine Heere fällen! (Ṛigv. 2,33,11, frei) –


darum heisst es ugram.


Aber warum heisst es vîram? – Weil er durch seine Majestät alle Welten, alle Götter, alle Selbste, alle Wesen in[762] Ruhe lässt (von ihnen absteht, viramati), zur Ruhe bringt, fort und fort schafft, ausbreitet und wohnen macht, –


Durch den ein Held, tatkräftig, reich an Tugend,

Ein Kelterer und Götterfreund entspringen (Ṛigv. 3,4,9),


darum heisst es vîram.


Aber warum heisst es mahâvishṇum? – [Weil er der ist,] welcher alle Welten durchsetzt und [sich von ihnen] durchsetzen macht, wie das Öl in betreff der von ihm durchwobenen, verwobenen, durchzogenen Sesamteigklumpen wechselseitig von ihnen durchsetzt wird und sie mit sich durchsetzen macht, –


Er, über dem nichts Höh'res ist vorhanden,

Der eingegangen in die Wesen alle,

Ja, über den hinaus nichts and'res da ist,

Prajâpati, mit Nachkommen versehen,

Durchdringt die drei Weltlichter sechzehnteilig, –

(Vâj. Samh. 8,36, frei, vgl. Gesch. d. Phil. I, 191)


darum heisst es mahâvishṇum.


Aber warum heisst es jvalantam? – Weil er durch seine Majestät alle Welten, alle Götter, alle Selbste, alle Wesen durch seine Glut entflammt, flammen macht, entflammt wird, sich entflammen macht, –

»Reger2, Erreger, Lichter, Leuchtender, Erleuchtender, Flammer, Entflammer, Brenner, Anbrenner, Verbrenner, Glänzer, Erglänzer, Schmücker, Schmückender, Schöner« (Taitt. Br, 3,10,1,2), –

darum heisst es jvalantam.


Aber warum heisst es sarvatomukham? – Weil er auch ohne Sinnesorgane allerwärts sieht, allerwärts hört, allerwärts geht, allerwärts nimmt und, überallhin gehend, überall weilt, –


»Der Eine, der die Welt vordem gewesen,

Aus dem entsprossen ist des Weltalls Hüter,

In den die Welt zergeht beim Übergange,

Ihn ehre ich, den allerwärts Gewandten«, –


darum heisst es sarvatomukham.
[763]

Aber warum heisst es nṛisiṅham? – Weil von allen Wesen der Mann (nṛi) das tapferste und edelste, und der Löwe (siṅha) das tapferste und edelste ist, darum wurde der höchste Gott zum Mannlöwen, denn zum Heile der Welt nimmt das Unvergängliche diese Gestalt an, –


»Gerühmt wird Vishṇu wegen dieser Grosstat,

Gleich wildem Tier, das schweifend haust in Bergen,

Er, unter dessen drei gewalt'gen Schritten

Die Wesen alle sichre Wohnung haben,« (Ṛigv. 1,154,2). –


darum heisst es nṛisiṅham.


Aber warum heisst es bhîshaṇam? – Weil er, vor dessen Anblick alle Welten, alle Götter, alle Wesen aus Furcht flüchten, selbst sich vor nichts, was es auch immer sei, fürchtet, –


»Aus Furcht vor ihm der Wind läutert,

Aus Furcht vor ihm die Sonne scheint,

Aus Furcht vor ihm eilt hin Agni

Und Indra und der Tod zu fünft,« (Taitt. 2,8). –


darum heisst es bhîshaṇam.


Aber warum heisst es bhadram? – [Weil] er, der selbst heilvoll ist, allezeit Heilvolles verleiht, »der Lichte, Leuchtende, Schmucke, Geschmückte, Schöne« (Taitt. Br. 3,10,1), –


»Heilvolles lasst mit Ohren hören, Götter,

Heilvolles uns mit Augen sehn, ihr Heil'gen,

Mit festen Gliedern, preisend, lasst uns leibhaft

Das gottgesetzte Lebensziel erreichen!« (Ṛigv. 1,89,8). –


darum heisst es bhadram.


Aber warum heisst es mṛityumṛityum? – Weil er für seine Verehrer, sobald sie nur an ihn denken, den Tod und Abertod tötet, –


»Der Odem gibt und Kraft gibt, er, dem alle,

Wenn er befiehlt, gehorchen, auch die Götter,

Des Abglanz das Unsterbliche, der des Todes Tod,

Wer ist der Gott, dass wir ihm opfernd dienen?«

(Ṛigv. 10,121,2, frei). –


darum heisst es mṛityumṛityum.
[764]

Aber warum heisst es namâmi? – Weil [er der ist,] vor welchem alle Götter sich neigen und die Erlösungsuchenden und die Brahmanlehrer, –


»Jetzt stimmet Brahmaṇaspati

Ein preisbegabtes Spruchlied an,

An welchem Indra und die Götter sich erfreun,

Varuṇa, Mitra, Aryaman,« (Ṛigv. 1,40,5). –


darum heisst es namâmi.


Aber warum heisst es aham?


»Der Erstgeborne der Weltordnung bin ich,

Schon vor den Göttern an des Ew'gen Quellpunkt,

Wer mich austeilt, der labt mich eben damit,

Denn ich bin Nahrung, essend den Nahrungesser,

Bin über diese ganze Welt erhaben.


Wie Gold leuchtend ist, wer solches weiss! – So lautet die grosse Upanishad« (Taitt. 3,10, oben S. 240).

Fußnoten

1 Alles in Anführungszeichen Eingeschlossene ist wörtlich aus Atharvaçikhâ (oben S. 727) entlehnt.


2 Die Stelle enthält nur eine Aufzählung der fünfzehn Stunden der Tage der zweiten Monatshälfte, wie Weber, Ind. Stud. IX, 94, bemerkt.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 760-765.
Lizenz:

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