Was ist das Brahman?

[58] Driptabâlâki war ein gelehrter Gârgyasproß. Er sprach zu Ajâtashatru von Kâshî (Benares): ›Ich will dir das Brahman erklären.‹ Ajâtashatru sprach zu ihm: ›Ich gebe dir tausend für diese Rede; die Leute laufen herbei mit dem Rufe: »ein Janaka, ein Janaka«1‹.

Gârgya sprach: ›Den Purusha2 in der Sonne, den verehre ich als Brahman.‹ Ajâtashatru sprach: ›Rede nicht mit mir von diesem, er überragt alle Wesen, ist ihr Oberhaupt, ihr König. Als den verehre ich ihn.‹ Wer ihn in dieser Weise verehrt, überragt alle Wesen, wird ihr Oberhaupt, ihr König.

Gârgya sprach: ›Den Purusha in dem Monde, den verehre ich als Brahman.‹ Ajâtashatru sprach: ›Rede nicht mit mir von diesem. Er ist der große, in ein weißes Gewand gekleidete König Soma. Als den verehre ich ihn.‹ Wer ihn in dieser Weise verehrt, für den wird er Tag für Tag gepreßt und weiter gepreßt; seine Speise versiegt nicht.

Gârgya sprach: ›Den Purusha im Blitz, den verehre ich als Brahman.‹ Ajâtashatru sprach: ›Rede nicht mit mir von diesem. Als den »Leuchtenden« verehre ich ihn. Wer ihn in dieser Weise verehrt, wird leuchten, dessen Nachkommenschaft wird leuchten.‹

Gârgya sprach: ›Den Purusha im Raum, den verehre ich als Brahman.‹ Ajâtashatru sprach: ›Rede nicht mit mir von diesem; als den Vollen, Unbeweglichen verehre ich ihn.‹ Wer ihn in dieser Weise verehrt, der erreicht Fülle an Nachkommenschaft und Nutzvieh. Seine Nachkommenschaft schwindet nicht aus dieser Welt.

Gârgya sprach: ›Den Purusha im Winde, den verehre ich[58] als Brahman.‹ Ajâtashatru sprach: ›Rede nicht mit mir von diesem. Als »Indra Vaikuntha«, als das unbesiegbare Heer, verehre ich ihn.‹ Wer ihn in dieser Weise verehrt, ist siegreich, unbezwinglich und bezwingt die anderen.

Gârgya sprach: ›Den Purusha im Feuer verehre ich als Brahman.‹ Ajâtashatru sprach: ›Rede nicht mit mir von diesem. Als den »Allgewaltigen« verehre ich ihn.‹ Wer ihn in dieser Weise verehrt, wird allgewaltig. Allgewaltig wird seine Nachkommenschaft.

Gârgya sprach: ›Den Purusha in den Wassern, den verehre ich als Brahman.‹ Ajâtashatru sprach: ›Rede nicht mit mir von diesem. Als das Gegenbild verehre ich ihn.‹ Wer ihn in dieser Weise verehrt, dem begegnet Entsprechendes, nicht Widersprechendes. Ein ihm Entsprechender wird ihm geboren.

Gârgya sprach: ›Den Purusha im Spiegel, den verehre ich als Brahman.‹ Ajâtashatru sprach: ›Rede nicht mit mir von diesem. Als den Strahlenden verehre ich ihn.‹ Wer ihn in dieser Weise verehrt, der wird strahlend. Strahlend wird seine Nachkommenschaft. Er überstrahlt alle, mit denen er zusammenkommt.

Gârgya sprach: ›Den Purusha in den Weltgegenden, den verehre ich als Brahman.‹ Ajâtashatru sprach: ›Rede nicht mit mir von diesem. Ich verehre ihn als den unzertrennlichen Gefährten.‹ Wer ihn in dieser Weise verehrt, der hat einen Gefährten, und seine Gefolgschaft weicht nicht von ihm.

Gârgya sprach: ›Den Schall, der hinter dem Schreitenden her sich erhebt, den verehre ich als Brahman.‹ Ajâtashatru sprach: ›Rede nicht mit mir von diesem. Als das Leben verehre ich ihn.‹ Wer ihn in dieser Weise verehrt, der erreicht in dieser Welt ein volles Alter. Nicht verläßt ihn der Hauch vor der Zeit.

Gârgya sprach: ›Den Purusha, der als Schatten erscheint, verehre ich als das Brahman.‹ Ajâtashatru sprach: ›Rede nicht mit mir von diesem. Als den Tod verehre ich ihn.‹[59] Wer ihn in dieser Weise verehrt, der erreicht in der Welt ein volles Alter. Nicht naht ihm der Tod vor der Zeit.

Gârgya sprach: ›Den Purusha in der Person (âtmani), den verehre ich als Brahman.‹ Ajâtashatru sprach: ›Rede nicht mit mir von diesem. Als den Persönlichen (mit einem individuellen Selbst Behafteten) verehre ich ihn. Wer ihn in dieser Weise verehrt, wird mit Persönlichkeit erfüllt, dessen Nachkommen sind mit Persönlichkeit erfüllt.‹ Da schwieg Gârgya.

Da sprach Ajâtashatru: ›Ist das alles?‹ ›Das ist alles!‹ ›Damit ist aber nichts erkannt.‹ Da sprach Gârgya: ›Ich will zu dir in die Lehre kommen.‹

Da sprach Ajâtashatru: ›Es ist gegen die Natur, daß ein Brahmane zu einem Kshatriya in die Lehre geht in dem Gedanken: er wird mir das Brahman verkünden. Doch will ich es dir auseinandersetzen.‹ Er nahm ihn bei der Hand und erhob sich. Sie gingen beide zu einem schlafenden Mann. Ihn rief er mit den (oben angegebenen) Bezeichnungen wie: ›Großer, in ein lichtes Gewand gekleideter König Soma.‹ Der stand nicht auf. Er weckte ihn, indem er ihn mit der Hand anstieß. Da stand er auf.

Ajâtashatru sprach: ›Als der hier eingeschlafen war, wo war da der aus Erkenntnis bestehende Geist? Woher kam er jetzt?‹ Gârgya wußte das nicht.

Ajâtashatru sprach: ›Als der hier eingeschlafen war, da nahm der aus Erkenntnis bestehende Geist die Erkenntnis durch Erkenntnis der Hauche an sich und liegt in dem Raum, der im Herzen sich befindet.

Wenn er sie3 ergreift, dann heißt es, daß der Purusha schläft. Dann hat er den Hauch, die Stimme, das Auge, das Ohr, den Verstand ergriffen.

Wenn er dann im Traum umherwandelt, so sind sein die Welten, scheint er ein großer König, ein großer Brahmane zu sein, scheint er auf und nieder zu steigen.

Wie ein großer König mit seinen Leuten in seinem Lande[60] nach Belieben umherzieht, zieht dieser mit den Hauchen in seinem Körper nach Belieben umher.

Aber wenn er im Tiefschlaf sich befindet, wenn er von nichts etwas weiß, dann ziehen die zweiundsiebzigtausend Hitâ genannten Adern aus dem Herzen zum Herzbeutel. Auf diesen schleicht er heran und ruht im Herzbeutel. Wie ein Prinz, wie ein großer Brahmane auf einem Gipfel der Wonne angelangt ruhen würde, ruht er dort.

Wie eine Spinne den Faden aus sich herausspinnt, wie von einem Feuer kleine Funken ausgehen, so gehen von diesem Selbst alle Hauche aus, alle Welten, alle Götter, alle die einzelnen Selbste. Die Upanishad (die heilige, geheime Lehre) davon ist die Wahrheit der Wahrheit. Die Hauche sind Wahrheit und von diesen ist das Selbst die Wahrheit.‹

1

Ein zweiter Janaka an Freigebigkeit.

2

»Männchen«, »Geist«.

3

Statt tân (auf Prâna bezüglich) steht tâni da; es bezieht sich auf alle im folgenden genannten Organe.

Quelle:
Upanishaden. Altindische Weisheit aus Brâhmanas und Upanishaden. Düsseldorf/Köln 1958, S. 58-61.
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