Zwei Fragen an Yâjnavalkya

[69] Da sprach Vâcaknavî Gârgî: ›Ehrwürdige Brahmanen! Wohlan, ich will Yâjnavalkya zwei Fragen vorlegen. Wenn er sie mir beantwortet, wird keiner von euch ihn jemals im Wettstreit besiegen; wenn er sie mir nicht beantwortet, wird sein Haupt zerspringen.‹ »Frage, Gârgî!«

Sie sprach: ›Wie ein Herr aus dem Lande der Kâshî oder Videha, der seinen sehnenlosen Bogen wieder mit der Sehne bezieht, zwei Pfeile zur Durchbohrung des Gegners nimmt und sich gegen ihn aufmacht, so habe ich mich mit zwei Fragen gegen dich aufgemacht, Yâjnavalkya, beantworte mir diese.‹ »Frage, Gârgî!«

Sie sprach: ›Was, Yâjnavalkya, jenseits des Himmels und unterhalb der Erde, was zwischen Himmel und Erde ist, was Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft heißt, wohinein ist das fest verwoben?‹

Er sprach: »Was, o Gârgî, jenseits des Himmels und unterhalb der Erde, was zwischen Himmel und Erde ist, was Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft heißt, in den Raum ist das fest verwoben.«

Sie sprach: ›Verehrung dir, Yâjnavalkya, der du mir diese Frage beantwortet hast. Mach dich auf die andere gefaßt.‹ »Frage, Gârgî.«

Sie sprach: ›Was, o Yâjnavalkya, jenseits des Himmels und unterhalb der Erde, was zwischen Himmel und Erde ist, was man Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nennt, sage1, wohinein ist es fest verwoben?‹

Er sprach: »Was, o Gârgî, jenseits des Himmels und unterhalb der Erde, was zwischen Himmel und Erde ist, was[69] man Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nennt, in den Raum, sage ich, ist es fest verwoben.«

›Wohinein ist denn der Raum fest verwoben?‹

Er sprach: »Es ist das, was die Brahmanen das Unversiegliche nennen, Gârgî. Es ist nicht dick, nicht dünn, nicht kurz, nicht lang, ohne Blut, Fett, Schatten, Dunkel, ohne Wind, Raum, ohne Adhäsion, Gefühl, Geruch, Geschmack, Auge, Ohr, Stimme, Verstand, Wärme, ohne Hauch, ohne Mund, ohne Name und Geschlecht, frei von Alter, Tod, Gefahr, es ist das Unsterbliche; es ist ohne Staub, ohne Laut, nicht offen, nicht verdeckt, es hat nichts vor, nichts hinter sich, nichts innen, nichts außen. Es verzehrt niemanden und keiner verzehrt es.

Auf das Geheiß dieses Unversieglichen bleiben, Gârgî, Erde und Himmel geschieden, auf das Geheiß dieses Unversieglichen, Gârgî, bleiben Sonne und Mond geschieden, auf das Geheiß dieses Unversieglichen, Gârgî, bleiben Tag und Nacht, Halbmonat, Monat, Jahreszeit und Jahr geschieden; auf das Geheiß dieses Unversieglichen, Gârgî, fließen einige Ströme von den weißen Bergen nach Osten, andere nach Westen in dieser oder jener Richtung; auf das Geheiß dieses Unversieglichen, Gârgî, preisen die Menschen den Freigebigen, hängen die Götter an dem Opferer, die Manen an der Löffelspende.

Der, welcher, ohne dieses Unversiegliche zu kennen, Gârgî, in dieser Welt opfert, schenkt, Kasteiung übt, wäre es auch durch Jahrtausende, dem wird nur die endliche Welt zuteil. Der, welcher, ohne dieses Unversiegliche zu kennen, aus dieser Welt scheidet, wohnt im Elend. Aber der, der das Unversiegliche kennend aus dieser Welt scheidet, ist ein Brahmane.

Dieses Unversiegliche, o Gârgî, ist das Sehende, das man nicht sieht, das Hörende, das man nicht hört, das Denkende, das man nicht denkt, das Erkennende, das man nicht erkennt. Es gibt nichts anderes, was sieht; nichts anderes, was[70] hört, nichts anderes, was denkt, nichts anderes, was erkennt. Das ist das Unversiegliche, o Gârgî, in das der Raum fest eingewoben ist.«

Sie sprach: ›Schätzt es hoch, ehrwürdige Brahmanen, wenn ihr euch von diesem mit einer Verneigung löset; niemals wird ihn einer von euch im Wortkampf besiegen.‹ Darauf schwieg Vâcaknavî.


(III, 8)

1

In der ersten Frage steht nur kasmin, in der zweiten kasminn eva, ich versuche, die Schattierung durch »sage« wiederzugeben.

Quelle:
Upanishaden. Altindische Weisheit aus Brâhmanas und Upanishaden. Düsseldorf/Köln 1958, S. 69-71.
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