Macht des Âtman

[86] Machthaber über alles, Herrscher über alles, Oberherr über alles ist der Âtman. Er gebietet über alles, was immer hier ist. Er wird nicht größer durch gute Werke und nicht geringer durch schlechte. Er ist Oberherr der Wesen, Herrscher[86] der Welt. Er ist der Damm, der diese Welten trennt, damit sie nicht zusammenstürzen.

Man sucht ihn durch Vedastudium, durch den heiligen Schülerstand, durch Kasteiung, Glaube, Opfer, Fasten zu erkennen. Wer ihn erkannt hat, wird ein Muni (Büßer, Schweiger). Zu ihm wandern die heiligen Wanderer, die seine Welt zu gewinnen trachten.

Darum haben die Brahmanen der Vorzeit, die studiert hatten und kundig waren, nicht Nachkommenschaft begehrt. ›Was sollen wir‹, dachten sie, ›mit Nachkommenschaft tun, wir, deren Welt der Âtman ist?‹ Sie gaben den Wunsch nach Söhnen, nach Besitz, nach der Welt auf und zogen als Bettler hinaus. Denn der Wunsch nach Söhnen ist ein Wunsch nach Besitz, der Wunsch nach Besitz ist ein Wunsch nach der Welt. Wunsch ist beides.

Von dem Âtman heißt es, ›na, na1‹. Unfaßbar, wird er nicht gefaßt; unzerstörbar, wird er nicht zerstört; nicht haftend, nicht gebunden, haftet er nicht, schwankt er nicht. Die Gedanken: ›Ich tat Übles‹ oder ›Ich tat Gutes‹ überwindet der Unsterbliche beide. Gut und Schlecht, getan und nicht getan schmerzt ihn nicht. Für ihn wird durch keinerlei Werk eine Welt mehr auferbaut.

Das sagt der Vers:

›Das ist die ewige Größe des Brahmakenners: nicht wächst er durch Werke, nicht wird er kleiner. Diese soll er erkunden. Wer sie erkannt hat, wird von bösen Handlungen nicht befleckt.‹

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Siehe oben Anm. 56.

Quelle:
Upanishaden. Altindische Weisheit aus Brâhmanas und Upanishaden. Düsseldorf/Köln 1958, S. 86-87.
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