Verschiedene Auffassungen vom Wesen des Selbst

[104] (Ähnlich Brih.-Âr.-Up. II, 1)


Zu Gautama kommen verschiedene Gelehrte, um ihn über das Wesen des Selbst zu befragen, und legen ihm, von ihm aufgefordert, ihre eigene Ansicht dar. Jeder von ihnen sieht den Âtman nur in einer einzelnen Erscheinung, im Himmel, in der Sonne usw., wohingegen er sie lehrt, das immer nur als eine Teilerscheinung anzusehen und den Âtman als klein wie eine Spanne und doch als übergroß anzusehen. Der Schluß des Kapitels verflicht in die Darlegung ein rein sakrales Element, indem es die Vedi, die Opferstreu usw. als Teile des Körpers des Âtman anzusehen lehrt. Der Text nennt ihn den Âtman Vaishvânara; diese Bezeichnung Vaishvânara haftet ursprünglich an dem einen Opferfeuer, das ein Symbol der Sonne ist und als altes Gaufeuer zu gelten hat. Statt Âtman Vaishvânara erscheint in der parallelen Erzählung des Shatapathabrâhmana X, 6, 1 noch dieser Agni Vaishvânara. An unserer Stelle ist also unter Aufgabe der konkreteren Vorstellung eines Feuers die abstraktere des Âtman V. eingetreten.


Prâcînashâla Aupamanyava, Satyayajna Paulushi, Indradyumna Bhâllaveya, Jana Shârkarâkshya, Budila Âshvatarâshvi: die großen Hausherren und Gelehrten kamen zusammen[104] und stellten darüber Erwägungen an: was ist unser Âtman, was ist das Brahman?

Sie kamen mit sich überein: Uddâlaka Âruni, ihr Ehrwürdigen, studiert jetzt diesen Âtman Vaishvânara (den sich über alle Verbreitenden). Wohlan, laßt uns zu ihm gehen. Sie gingen zu ihm.

Er kam mit sich überein: diese großen Hausherren und Gelehrten werden mich befragen; ich kann ihnen kaum alles beantworten. Wohlan, ich will auf einen anderen hinweisen. Er sprach zu ihnen: ›Ashvapati Kaikeya, ihr Ehrwürdigen, studiert jetzt diesen über alle sich verbreitenden Âtman. Zu dem, wohlan, laßt uns gehen.‹ Sie gingen zu ihm.

Jedem der Ankömmlinge ließ dieser die Gästen zukommende Ehrung einzeln erweisen; am Morgen erhob er sich und sprach: ›Es gibt in meinem Reich keinen Dieb, keinen Geizhals, keinen Trinker, keinen, der nicht das heilige Feuer unterhielte, keinen Unwissenden, keinen Wüstling, geschweige denn eine Dirne. Ich wünsche ein Opfer zu bringen, Ehrwürdige; ich will den Ehrwürdigen so viel an Lohn geben, als ich jedem einzelnen Priester gebe. Bleibet hier, Ehrwürdige.‹

Sie sprachen: »Womit ein Mann sich beschäftigt, das soll er verkünden. Du studierst jetzt den über alle sich verbreitenden Âtman, den verkünde uns.«

Er sprach zu ihnen: ›Morgen früh werde ich es euch mitteilen.‹ Diese kamen, Brennholz in der Hand, vormittags wieder zu ihm.

Ohne sie regelrecht als Schüler aufzunehmen, sprach er zu ihnen so:

›Aupamanyava, wen verehrst du als das Selbst?‹

»Den Himmel, ehrwürdiger König«, sprach er.

›Das ist der wie Soma leuchtende, über alle sich verbreitende Âtman, den du als Âtman verehrst. Darum sieht man den Somasaft in deinem Geschlecht eintägig, mehrtägig, vieltägig keltern.[105]

Du issest Speise, du siehst Liebes: es ißt Speise, es sieht Liebes, Brahmanenwürde wohnt in dessen Geschlecht, wer in dieser Form den Âtman Vaishvânara verehrt. Aber das ist nur der Kopf des Brahmam‹, sprach er. ›Dein Haupt wäre geborsten, wärst du nicht zu mir gekommen.‹

Darauf sprach er zu Satyayajna Paulushi: ›Prâcînayogya, wen verehrst du als das Selbst?‹ »Die Sonne, ehrwürdiger König«, sprach er. ›Dies ist der allerlei Gestalt beherrschende, über alle sich verbreitende Âtman, den du als Âtman verehrst. Darum sieht man in deinem Geschlecht viel Dinge von allerlei Gestalt:

Den dahinrollenden Maultierwagen, die Sklavin, den Goldschmuck. Du issest Speise, du siehst Liebes: es ißt Speise, es sieht Liebes, Brahmanenwürde wohnt in dessen Geschlecht, der in dieser Form den Âtman verehrt. Aber das ist nur das Auge des Âtman‹, sprach er. ›Du wärest blind geworden, wenn du zu mir nicht gekommen wärest.‹

Darauf sprach er zu Indradyumna Bhâllaveya: ›Vaiyâghrapadya, wen verehrst du als das Selbst?‹ »Den Wind, ehrwürdiger König«, sprach er. ›Das ist der seine besonderen Pfade gehende, über alle sich verbreitende Âtman, den du als Âtman verehrst. Daher stellen sich verschiedene Huldigungsgaben bei dir ein und folgen dir verschiedene Wagenreihen nach.

Du issest Speise, du siehst Liebes: es ißt Speise, es sieht Liebes, Brahmanenwürde wohnt in dessen Geschlecht, der in dieser Form den über alle sich verbreitenden Âtman verehrt. Aber das ist nur der Hauch des Âtman‹, sprach er. ›Dein Lebenshauch würde von dir gewichen sein, wenn du nicht zu mir gekommen wärest.‹

Darauf sprach er zu Jana Shârkarâkshya: ›Shârkarâkshya, wen verehrst du als das Selbst?‹ »Den Raum, ehrwürdiger König«, sprach er. ›Das ist der ausgedehnte, über alle sich verbreitende Âtman, den du als Âtman verehrst. Deshalb bist du ausgedehnt, an Nachkommenschaft und Besitz.[106]

Du issest Speise, du siehst Liebes: es ißt Speise, es sieht Liebes, Brahmanenwürde wohnt in dessen Geschlecht, der in dieser Form den über alle sich verbreitenden Âtman verehrt. Das ist aber nur der Leib des Âtman‹, sprach er. ›Dein Leib würde zerfallen sein, wenn du zu mir nicht gekommen wärest.‹

Darauf sprach er zu Budila Âshvatarâshvi: ›Vaiyâghrapadya, wen verehrst du als Âtman?‹ »Die Wasser, ehrwürdiger König«, sprach er. ›Das ist der als Reichtum erscheinende, über alle sich verbreitende Âtman, den du als Âtman verehrst. Darum bist du reich und blühest.

Du issest Speise; du siehst Liebes: es ißt Speise, es sieht Liebes, Brahmanenwürde wohnt in dessen Geschlecht, der in dieser Form den über alle sich verbreitenden Âtman verehrt. Aber das ist nur die Blase des Âtman. Deine Blase würde geplatzt sein, wenn du zu mir nicht gekommen wärest.‹

Da sprach er zu Uddâlaka Âruni: ›Gautama, wen verehrst du als Âtman?‹ »Die Erde, ehrwürdiger König.« ›Das ist der als Stütze erscheinende, über alle sich verbreitende Âtman, den du als Âtman verehrst. Darum bist du durch Nachkommen und Tiere gestützt.

Du issest Speise; du siehst Liebes: es ißt Speise, es sieht Liebes, Brahmanenwürde wohnt in dessen Geschlecht, der in dieser Form den über alle sich verbreitenden Âtman verehrt. Das sind aber nur die Füße des Âtman. Deine Füße würden ermattet sein, wenn du nicht zu mir gekommen wärest.‹

Er sprach zu ihnen: ›Ihr sehet in diesem über alle sich verbreitenden Âtman immer nur auf das Einzelne und esset eure Speise. Wer aber diesen über alle sich verbreitenden Âtman als klein wie eine Spanne und als unendlich groß verehrt, der ißt Speise in allen Welten, in allen Wesen, in allen Âtmans.

Von diesem über alle sich verbreitenden Âtman ist der wie[107] Soma leuchtende (Himmel) nur das Haupt, der allerlei Gestalt beherrschende (Sonnengott) nur das Auge, der seine besonderen Pfade gehende (Wind) nur der Hauch, der ausgedehnte (Raum) nur der Leib; sein Reichtum nur die Blase, die als Stütze erscheinende (Erde) nur die Füße. Die Vedi ist seine Brust, die Opferstreu seine Haare, das Gârhapatyafeuer sein Herz, das Anvâhâryapacana sein Verstand, das Âhavanîyafeuer sein Mund.‹


(V, 11-18)

Quelle:
Upanishaden. Altindische Weisheit aus Brâhmanas und Upanishaden. Düsseldorf/Köln 1958, S. 104-108.
Lizenz:

Buchempfehlung

Holz, Arno

Die Familie Selicke

Die Familie Selicke

Das bahnbrechende Stück für das naturalistische Drama soll den Zuschauer »in ein Stück Leben wie durch ein Fenster« blicken lassen. Arno Holz, der »die Familie Selicke« 1889 gemeinsam mit seinem Freund Johannes Schlaf geschrieben hat, beschreibt konsequent naturalistisch, durchgehend im Dialekt der Nordberliner Arbeiterviertel, der Holz aus eigener Erfahrung sehr vertraut ist, einen Weihnachtsabend der 1890er Jahre im kleinbürgerlich-proletarischen Milieu.

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon