Ânandavallî-Upanishad

[131] (= Taittirîya-Up. II)


Aus dem Brahman entsteht auf dem Wege über Äther, Wind, Feuer, Wasser, Erde, Pflanzen aus der Speise der Mensch. Das Selbst, das sich in den materiellen Leib kleidet, wird von verschiedenen Formen wie von Hüllen umgeben, von denen eine höher steht als die andere. Höher als die Zusammensetzung aus Speise steht der Âtman, der aus Hauch besteht; höher als dieser der, der aus Geist besteht, höher als dieser der, der aus Erkenntnis besteht. Jede der Hüllen hat ihre besondere, menschenähnliche Gestalt: bei dem Prâna-Âtman ist Prâna der Kopf, der Aushauch die rechte, der Durchhauch die linke Seite; bei dem Âtman, der aus Manas besteht, der Yajurveda der Kopf, der Rigveda die rechte, der Sâmaveda die linke Seite; bei dem aus Erkenntnis bestehenden Âtman ist der Glaube das Haupt, das Recht die rechte, die Wahrheit die linke Seite, die Versenkung die Seele, die Macht das Unterteil; aber die Teile des höchsten Âtman sind Schattierungen der Freude. Wer das Wesen des Brahman in der Erkenntnis sucht, hat zwar eine höhere Stufe als der erreicht, der die Veden studiert hat und das Manas für den Sitz des Brahman oder höchsten Âtman hält; aber die höchste Stufe erreicht man nicht mit Versenkung oder Vedenstudium, sondern nur mit der Einsicht, daß Brahman Wonne ist. Durch diesen höchsten Âtman, der sich selbst schuf und verteilte, ist die Wonne in die Welt gekommen. Wer ihn kennt, durchschreitet bei seinem Tode die Reihe der einzelnen Âtmans und gelangt zum höchsten Wonnezustand; er hegt keine Furcht und ist sorglos um böses oder unterlassenes Tun. Es ist das Unsichtbare, Unpersönliche, Undefinierbare, worin er seinen Frieden findet, das im Gegensatz zum Definierbaren, zu Nichterkenntnis, Nichtwahrheit steht, die gleichwohl aus ihm entstanden sind. Es wünschte einst die Welt zu schaffen und ging in sie nach ihrer Erschaffung ein. So entstand der Gegensatz Erkenntnis und Nichterkenntnis, Wahrheit und Nichtwahrheit usw. Die Komposition ist nicht einheitlich, sondern verrät verschiedene Hände, so daß die Übergänge schwer zu gewinnen sind. Auch Deussens vertiefende Betrachtung kann Zweifel an der Einheit nicht beseitigen. Ich habe die Stellen, die ich als Zusätze ansehe, eingeklammert.


Wer das Brahman kennt, erlangt das Höchste. Ein Vers sagt:[132]

›Wer im Brahman, das in einer Höhle, im höchsten Himmel verborgen ist, Wahrheit, Erkenntnis, Freude sieht, der erlangt durch Brahman, das weise, alle Wünsche.‹

Aus diesem Brahman ist der Äther entstanden, aus dem Äther der Wind, aus dem Wind das Feuer, aus dem Feuer das Wasser, aus dem Wasser die Erde, aus der Erde die Pflanzen, aus den Pflanzen die Speise, aus der Speise der Mensch. Der Mensch besteht aus Speise und Trank. Von ihm ist das (auf den Kopf zeigend) das Haupt, das die rechte, das die linke Seite, das die Seele, das das Unterteil, die Stütze. Ein Vers sagt:

›Aus der Speise entstehen die Geschöpfe, die auf der Erde wohnen;

sie leben durch die Speise und gehen schließlich in Speise ein.

Speise ist das Beste für die Wesen; darum wird sie »Allheilmittel« genannt.

Jegliche Speise erreichen die, die im Brahman die Speise verehren. Speise ist das Beste für die Wesen; darum wird sie »Allheilmittel« genannt.

Aus Speise entstehen die Wesen, daraus entstanden, wachsen sie durch Speise; sie wird gespeist und verspeist die Wesen, darum wird sie Speise genannt.‹

Von diesem aus Speise und Trank bestehenden ist der innere Âtman verschieden, der aus Hauch besteht. Jener ist davon erfüllt. Jener hat Menschenform, und seiner Menschenform entsprechend hat auch dieser Menschenform. Der Hauch ist der Kopf, der Durchhauch die rechte, der Aushauch die linke Seite, der Äther die Seele, die Erde das Unterteil, die Stütze. Ein Vers sagt:

›Infolge des Hauches atmen Götter, Menschen und Tiere; der Hauch ist das Leben der Wesen; darum heißt er »Allbeleber«. Zu einem vollen Alter gelangen die, die in dem Prâna das Brahman verehren.‹

Ihm ist dasselbe körperliche Selbst wie dem vorigen eigen.[133]

Von diesem aus dem Hauch bestehenden Âtman ist der innere Âtman verschieden, der aus Manas besteht. Jener ist davon erfüllt. Jener hat Menschenform, und seiner Menschenform entsprechend hat auch dieser Menschenform. Der Yajurveda ist sein Kopf, der Rigveda seine rechte, der Sâmaveda seine linke Seite; die Unterweisung seine Seele. Atharvan und Angiras (Atharvaveda) ist das Unterteil, die Stütze. Ein Vers sagt:

›Vor dem Worte und Verstand, ohne ihn erreicht zu haben, versagen, das ist der Wonnezustand des Brahman. Wer ihn kennt, hegt nie mehr Furcht1.‹

Ihm ist dasselbe körperliche Selbst wie dem vorigen eigen.

Von diesem aus Geist bestehenden ist der innere Âtman verschieden, der aus Erkenntnis besteht. Jener ist davon erfüllt. Jener hat Menschenform, und seiner Menschenform entsprechend hat auch dieser Menschenform. Der Glaube ist sein Kopf, Recht die rechte, Wahrheit die linke Seite; die Versenkung seine Seele; die Macht das Unterteil, die Stütze. Ein Vers sagt:

›Erkenntnis breitet er als das Opfer mit seinen Zeremonien aus. In der Erkenntnis verehren alle Götter das höchste Brahman. Wenn einer in der Erkenntnis das Brahman sieht und darin nicht ermattet, dann läßt er im Leib alle Übel zurück und erreicht alle Wünsche.‹

Ihm ist dasselbe körperliche Selbst wie dem vorigen eigen.

Von diesem aus Erkenntnis bestehenden ist der innere Âtman verschieden, der aus Wonne besteht. Jener ist davon erfüllt. Jener hat Menschenform, und entsprechend jener Menschenform hat auch dieser Menschenform. Liebes ist sein Kopf, Freude seine rechte, Freude seine linke Seite, Wonne seine Seele, das Brahman das Unterteil, die Stütze. Ein Vers sagt:

›Wer im Brahman das Nichtsein sieht, der wird zum Nichtseienden. Wenn einer weiß, »das Brahman ist«, den kennt man als einen Seienden.‹[134] Ihm ist dasselbe körperliche Selbst wie dem vorigen eigen.

[Infolge davon entstehen die Fragen: ›Kann ein Unkundiger nach seinem Tode in jene Welt eingehen oder erreicht sie ein Kundiger nach seinem Tode?‹]

[Der (Âtman) wünschte sich zu vervielfachen und fortzupflanzen. Er übte Kasteiung, und nachdem er sie geübt hatte, schuf er alles, was besteht. Als er dies alles geschaffen hatte, ging er darein ein. Es entstand Gleichmäßiges (sat) und Veränderliches (tyat)2, Ausgesprochenes und Unausgesprochenes, Ursächliches und Nichtursächliches, Erkenntnis und Nichterkenntnis, Wahrheit und Nichtwahrheit. Die Wahrheit3 wurde zu allem, was existiert; darum sieht man es als Wahrheit an.]

Das Nichtseiende war hier am Anfang. Daraus entstand das Seiende. Das hatte selbst sich geschaffen; darum heißt es ›wohl geschaffen‹. Das ist das Wohlgeschaffene; das ist der Geschmack. Wenn einer Geschmack findet, freut er sich. Wie möchte einer aus- und einatmen, wenn es in dem Raum keine Freude gäbe. Er bringt die Wonne. Wenn einer in diesem Unsichtbaren, Unpersönlichen, Undefinierbaren, Nichtursächlichen die Freiheit von Furcht als Grundlage findet, der ist zur Freiheit von Furcht gelangt. Wenn einer aber darin die Furcht4 sich aneignet, so wird ihm Furcht zuteil. Das ist die Furcht dessen, der sich nicht weise dünkt. Ein Vers sagt:

›Aus Furcht vor ihm weht der Wind, aus Furcht geht die Sonne auf, aus Furcht vor ihm läuft Agni, Indra und zufünft der Tod‹.

Es folgt die Betrachtung des Wonnezustandes.

Gesetzt, es sei ein Jüngling trefflich, lernbegierig, sehr schnell, standhaft, kräftig, die Erde für ihn voller Güter, so ist das eine menschliche Freude. Hundert solcher Freuden sind gleich einer Freude unter den menschlichen Gandharvas und eines von Wünschen freien Vedagelehrten. Hundert solcher Freuden der menschlichen Gandharvas[135] sind gleich einer Freude der göttlichen Gandharvas und eines von Wünschen freien Vedagelehrten. Hundert solcher Freuden der göttlichen Gandharvas sind gleich einer Freude der Manen, die lange dauernde Welten bewohnen, und eines von Wünschen freien Vedagelehrten. Hundert solcher Freuden der Manen, die lange dauernde Welten bewohnen, sind gleich einer Freude der Götter von Geburt und eines von Wünschen freien Vedagelehrten. Hundert solcher Freuden der Götter von Geburt sind gleich einer Freude der Götter durch Verdienst und eines von Wünschen freien Vedagelehrten. Hundert solcher Freuden der Götter von Verdienst sind gleich einer Freude der Götter und eines von Wünschen freien Vedagelehrten. Hundert solcher Freuden der Götter sind gleich einer Freude Indras und eines von Wünschen freien Vedagelehrten. Hundert solcher Freuden Indras sind gleich einer Freude Brihaspatis und eines von Wünschen freien Vedagelehrten. Hundert solcher Freuden Brihaspatis sind gleich einer Freude Prajâpatis und eines von Wünschen freien Vedagelehrten. Hundert solcher Freuden Prajâpatis sind gleich einer Freude Brahmans und eines von Wünschen freien Vedagelehrten.

[Der, der hier im Menschen wohnt, und der, der dort in der Sonne wohnt, ist ein und derselbe.]

Wer das weiß, gelangt nach seinem Scheiden aus dieser Welt in den Âtman, der aus Speise besteht; in den Âtman, der aus dem Hauch besteht; in den Âtman, der aus Geist besteht; in den Âtman, der aus Erkenntnis besteht; in den Âtman, der aus Wonne besteht. Ein Vers sagt:

›Vor dem Wort und Verstand, ohne ihn erreicht zu haben, versagen, das ist der Wonnezustand des Brahman. Wer ihn kennt, hegt nie mehr Furcht.‹

Ihn quält der Gedanke nicht mehr, ›was habe ich Gutes zu tun unterlassen, was habe ich Böses getan?‹ Wer so weiß, befreit sein Ich von beidem; von beidem befreit sein Ich, wer so weiß.

1

Anders Brahma-Upanishad.

2

Auch diese Upanishad zerlegt mißbräuchlich satyam in sat tyam, »Seiendes« und »Dieses«, wie Brihad-Âr. II, 3, 1, wo Böhtlingk übersetzt »eine seiende und eine durch diese bezeichnete« Erscheinungsform. Meine Übersetzung schließt teilweise an den Kommentar sich an, der Intelligent und Unintelligent einander gegenüberstellt, und ist, sowie die anderen, ganz unsicher.

3

Gemeint ist wohl nicht satyam, sondern sat-tyam, den Gegensätzen entsprechend.

4

Ich lese: etasminn u daram und sehe in daram ein Synonym von bhaya, das dem abhaya des vorhergehenden Satzes entspricht.

Quelle:
Upanishaden. Altindische Weisheit aus Brâhmanas und Upanishaden. Düsseldorf/Köln 1958, S. 131-136.
Lizenz:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Flucht in die Finsternis

Flucht in die Finsternis

Robert ist krank und hält seinen gesunden Bruder für wahnsinnig. Die tragische Geschichte um Geisteskrankheit und Tod entstand 1917 unter dem Titel »Wahn« und trägt autobiografische Züge, die das schwierige Verhältnis Schnitzlers zu seinem Bruder Julius reflektieren. »Einer von uns beiden mußte ins Dunkel.«

74 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon