3. Der psychologische Teil (XIII- XVIII).

[18] Hatte der erste Teil unseres Gedichtes die Hingebung (yoga) an das interesselose Handeln als höchste Aufgabe hingestellt, und der zweite in diesem interesselosen Handeln eine Hingebung an Gott und eine Einswerdung mit ihm gesehen, so handelt der dritte und letzte Teil des Werkes von den Hindernissen, welche der Erfüllung dieser Aufgabe entgegenstehen, und diese Hindernisse lassen sich zusammenfassen in dem Namen der Prakṛiti, oder der drei Guṇa's (Sattvam, Rajas, Tamas), aus welchen sie besteht. So erscheint als Grundgedanke dieses letzten Teiles die Forderung, dass wir uns von der Prakṛiti und den drei Guṇa's, welche ihr Wesen ausmachen, lossagen. Diese Lossagung erfolgt durch die Erkenntnis, dass unser göttliches Wesen, unser Purusha, von der Prakṛiti und allen ihren Evolutionen verschieden[18] ist. Hier tritt die das ganze Gedicht durchziehende Inkonzinnität besonders grell zutage; denn nachdem im Anschluss an die alte Vedântalehre wiederholt versichert wurde, dass diese Welt mit allem ihrem Inhalte nur eine Ausbreitung des Âtman ist, so wird nunmehr der Purusha (das Subjekt des Erkennens) als die höhere Natur des Âtman behandelt, und diesem die Prakṛiti als gleich ewig (S. 93, 19) gegenübergestellt. Dieser Umstand zeigt deutlicher als irgendein anderer, dass unser Gedicht in der Mitte steht zwischen der alten Âtmanlehre und der Sâ khyatheorie mit ihren beiden von Grund aus verschiedenen Prinzipien, dem Purusha und der Prakṛiti. Auf der Erkenntnis ihrer Verschiedenheit beruht, wie S. 105, 1 fg. entwickelt wird, die göttliche Lebensführung, welche zur Erlösung, auf dem Nichtwissen dieser Verschiedenheit beruht die dämonische Lebensweise, welche zur fortgesetzten Bindung in den Fesseln des Samsâra führt. Der weitere Inhalt dieses Teils besteht in einer Zurückführung der ethischen Verhältnisse des Lebens auf die drei Guṇa's der Prakṛiti, von denen das Sattvam dem Göttlichen am nächsten, das Tamas am fernsten steht, während das Rajas zwischen beiden die Mitte hält. Alle Dinge der Welt als Evolutionen der Prakṛiti sind eine Durchdringung[19] dieser drei Faktoren (wie man guṇa am besten übersetzt), wobei Sattvam dasjenige an den Dingen ist, was erfreut, Rajas dasjenige, was verdriesst und daher zum Handeln antreibt, Tamas dasjenige, was weder erfreut noch verdriesst, mithin gleichgültig ist und zu Trägheit, Stagnation und Stumpfsinn führt. Wenn ein Gegenstand den einen erfreut, den andern verdriesst, so beruht dies darauf, dass er jenem seine sattvamartige, diesem seine rajasartige Seite zukehrt. Des weiteren werden nicht nur allerlei ethische Verhältnisse in ermüdender Aufzählung aus den drei Guṇa's abgeleitet, sondern eben diese bedingen ein dreifach verschiedenes Verhalten in bezug auf Glaube, Nahrung, Opfer, Askese, Geben und Entsagung, auf Erkenntnis, Werk und Täter, auf Buddhi, Festigkeit und Lust. Wenn diese Ausführungen in ihrer Nüchternheit gegen die ethische Tiefe des ersten und die schwungvollen Betrachtungen des zweiten Teils für unser Gefühl erheblich abstechen, so müssen wir hier den nationalen Neigungen Rechnung tragen; sind doch für uns auch im Ajax des Sophokles der auf den Tod des Helden folgende gerichtliche Streit um seine Leiche, oder im Phaedrus des Platon die an die wundervolle Rede des Sokrates sich anschliessende weitläufige Diskussion über die Berechtigung der Beredsamkeit[20] wenig ansprechende Zugaben, während der Grieche sie ohne Zweifel mit grossem Interesse verfolgte. Ebenso sind die systematisierenden Aufzählungen im letzten Teile der Bhagavadgîtâ aus der Neigung des indischen Geistes zu doktrinären Erörterungen zu begreifen, während sie für uns den bei allen Unstimmigkeiten, die das Gedicht enthält, immerhin grossen Eindruck der beiden ersten Teile abschwächen.


Kiel, im Juni 1911.

P.D.[21]

Quelle:
Der Gesang des Heiligen. Eine philosophische Episode des Mahâbhâratam. Leipzig 1911, S. XVIII18-XXII22.
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