a) Das Orakelbuch

[15] Das Buch der Wandlungen war zunächst eine Sammlung von Zeichen für Orakelzwecke. Orakel wurden im Altertum allenthalben gebraucht, und die ursprünglichsten unter ihnen beschränkten sich auf die Antworten Ja und Nein. So liegt auch bei dem Buch der Wandlungen diese Orakelentscheidung zugrunde. Das »Ja« wurde durch einen einfachen ganzen Strich angedeutet –, das »Nein« durch einen gebrochenen Strich . Schon sehr früh scheint jedoch das Bedürfnis zu einer größeren Differenzierung vorhanden gewesen zu sein, und aus den einfachen Strichen ergaben sich Kombinationen durch Verdoppelung a. Das Orakelbuch, denen dann noch ein drittes Strichelement hinzugefügt wurde, wodurch die sogenannten acht Zeichen entstanden. Diese acht Zeichen wurden als Bilder dessen, was im Himmel und auf Erden vorging, aufgefaßt. Dabei herrschte die Anschauung eines dauernden Übergangs des einen in das andere, ebenso wie in der Welt ein dauernder Übergang der Erscheinungen ineinander stattfindet. Hier haben wir nun den entscheidenden Grundgedanken der Wandlungen. Die acht Zeichen sind Zeichen wechselnder Übergangszustände, Bilder, die sich dauernd verwandeln. Worauf das Augenmerk gerichtet war, waren nicht die Dinge in ihrem Sein – wie das im Westen hauptsächlich der Fall war –, sondern die Bewegungen der Dinge in ihrem Wechsel. So sind die acht Zeichen nicht Abbildungen der Dinge, sondern Abbildungen ihrer Bewegungstendenzen. Diese acht Bilder haben dann auch einen mannigfaltigen Ausdruck gefunden. Sie stellten gewisse Vorgänge in der Natur dar, die ihrem Wesen entsprachen. Sie stellten ferner eine Familie von Vater, Mutter, drei Söhnen, drei Töchtern dar, nicht in mythologischem Sinn, wie etwa der griechische Olymp von Göttern bevölkert ist, sondern ebenfalls in jenem sozusagen abstrakten Sinn, daß nicht Dinge, sondern Funktionen dargestellt werden.

Gehen wir diese acht Symbole, wie sie dem Buch der Wandlungen zugrunde liegen, durch, so bekommen wir folgende Anordnung:
[15]

a. Das Orakelbuch

Wir haben somit in den Söhnen das bewegende Element in seinen verschiedenen Stadien: Anfang der Bewegung, Gefahr in der Bewegung, Ruhe und Vollendung der Bewegung. In den Töchtern haben wir das Element der Hingebung in seinen verschiedenen Stadien: Sanftes Eindringen, Klarheit und Anpassung, heitere Ruhe.

Um nun eine noch größere Mannigfaltigkeit zu gewinnen, wurden diese acht Bilder sehr früh schon kombiniert, wodurch man die Zahl von 64 Zeichen bekam. Diese 64 Zeichen bestehen nun je aus sechs positiven oder negativen Strichen. Diese Striche sind wandelbar gedacht. Sooft ein Strich sich wandelt, geht der durch ein Zeichen dargestellte Zustand in einen andern über. So haben wir z.B. das doppelte Zeichen Kun, das Empfangende, die Erde a. Das Orakelbuch. Es stellt die Art der Erde dar, das kraftvoll Hingebende, im Lauf des Jahres den Spätherbst, da alle Lebenskräfte ruhen. Wandelt sich nun der unterste Strich, so bekommen wir das Zeichen a. Das Orakelbuch Fu, die Wiederkehr. Es stellt den Donner dar, die Bewegung, die sich zur Sonnwendzeit in der Erde wieder regt, die Wiederkehr des Lichten.

Wie aus diesem Beispiel hervorgeht, müssen sich nicht alle Striche wandeln. Es hängt ganz davon ab, welchen Charakter der Strich hat. Ein Strich, der die positive Natur in der Steigerung enthält, schlägt um in sein Gegenteil, das Negative; dagegen bleibt ein positiver Strich von geringerer Stärke unverändert, und entsprechend ist es mit den negativen Strichen.

Darüber nun, welche Striche so stark mit positiver oder negativer Kraft geladen zu denken sind, daß sie sich bewegen, geben im zweiten Buch Kapitel IX des ersten Abschnitts der großen Abhandlung sowie der Sonderabschnitt über das Wahrsagen genaueren Aufschluß. Hier sei nur so viel gesagt, daß die sich[16] bewegenden positiven Striche mit Neun, die sich bewegenden negativen Striche mit Sechs bezeichnet werden, während die Striche, die ruhen und also nur als Aufbaumaterial des Zeichens ohne innere Sonderbedeutung dienen, durch eine Sieben bzw. Acht repräsentiert werden. Wenn es also im Text heißt: »Anfangs eine Neun bedeutet«, so heißt das: Wenn der positive Strich auf dem Anfangsplatz durch eine Neun repräsentiert wird, so bedeutet er folgendes: ... – Wird er dagegen durch eine Sieben repräsentiert, so kommt er für das Orakel nicht in Betracht. Ebenso ist es mit den Sechsen und Achten. In unserem vorigen Beispiel haben wir das Zeichen Kun, das Empfangende, das sich folgendermaßen zusammensetzt:


8 oben

8 auf fünftem Platz

8 auf viertem Platz

8 auf drittem Platz

8 auf zweitem Platz

Anfangs 6


Es bleiben also die fünf oberen Striche außer Betracht, und nur die Sechs zu Anfang hat eine selbständige Bedeutung. Durch ihre Umgestaltung geht der Zustand a. Das Orakelbuch Kun, das Empfangende, in den Zustand a. Das Orakelbuch Fu, die Wiederkehr, über.

Auf diese Weise also haben wir eine Reihe von symbolhaft ausgedrückten Zuständen, die durch die Bewegung ihrer Linien ineinander übergehen können (nicht müssen; denn wenn ein Zeichen sich nur aus Siebenen und Achten zusammensetzt, so bewegt es sich nicht, und nur sein Zustand als ganzer kommt in Betracht).

Zu dem Gesetz der Wandlung und den Bildern der Wandelzustände, wie sie durch die 64 Zeichen gegeben waren, kommt nun noch ein weiteres. Jede Situation verlangte eine besondere Handlungsweise, um sich ihr anpassen zu können. In jeder Situation war eine Handlungsweise richtig, eine andere falsch. Offenbar brachte die richtige Handlungsweise Glück, die falsche Unglück. Welche Handlungsweise ist nun in jedem Fall die richtige? Diese Frage war das Entscheidende. Sie ist es, die dazu geführt hat, aus dem I Ging mehr zu machen als ein gewöhnliches Wahrsagebuch. Wenn eine Kartenlegerin ihrer Kundin sagt, daß sie in acht Tagen einen Geldbrief aus Amerika bekommen werde, so kann diese nichts tun als warten, bis dieser Brief kommt – oder nicht. Es ist Schicksal, das verkündet wird, das unabhängig[17] ist vom Tun und Lassen des Menschen. Darum bleibt alle Wahrsagung ohne moralische Bedeutung. Indem sich in China zum ersten Male jemand fand, der sich mit den Zukunft verkündenden Zeichen nicht zufrieden gab, sondern fragte: Was soll ich tun? geschah es, daß aus dem Wahrsagebuch ein Weisheitsbuch werden mußte. Dem König Wen, der ums Jahr 1000 v. Chr. lebte, und seinem Sohn, dem Herzog von Dschou, war diese Wendung vorbehalten. Sie versahen die bisher stummen Zeichen und Linien, aus denen jeweils von Fall zu Fall die Zukunft divinatorisch erraten werden mußte, mit klaren Ratschlägen für richtiges Handeln. Dadurch wurde der Mensch zum Mitgestalter des Schicksals; denn seine Handlungen griffen als entscheidende Faktoren ins Weltgeschehen ein, um so entscheidender, je früher man durch das Buch der Wandlungen die Keime des Geschehens erkennen konnte; denn auf die Keime kam es an. Solange die Dinge noch im Entstehen sind, können sie geleitet werden. Haben sie sich erst in ihren Folgen ausgewachsen, so werden sie zu übermächtigen Wesen, denen der Mensch machtlos gegenübersteht. So wurde denn das Buch der Wandlungen zu einem Wahrsagebuche ganz besonderer Art. Seine Zeichen und Linien bildeten in ihren Bewegungen und Wandlungen geheimnisvoll die Bewegungen und Wandlungen des Makrokosmos nach. Durch den Gebrauch der Schafgarbenstengel konnte man den Punkt erhalten, von dem eine Übersicht über die Verhältnisse möglich war. Hatte man die Übersicht, so gaben die Worte Auskunft über das, was man zu tun hatte, um der Zeit zu entsprechen.

Für unser modernes Empfinden ist hierbei nur die Methode, durch Abteilen von Schafgarbenstengeln die Situation zu erfahren, befremdlich. Dieser Vorgang wurde aber als ein geheimnisvoller betrachtet in der Weise, daß eben durch dieses Abteilen dem Unbewußten im Menschen die Möglichkeit verliehen wurde, sich zu betätigen. Nicht jedermann hat in gleicher Weise die Fähigkeit, das Orakel zu fragen. Es bedarf dazu eines klaren und ruhigen Gemüts, das empfänglich ist für die kosmischen Einwirkungen, die in den unscheinbaren Orakelstengeln verborgen sind, die als Produkte der Pflanzenwelt mit dem Urleben in besonderen Beziehungen standen. Sie entstammten heiligen Pflanzen.

Quelle:
I Ging. Köln 141987, S. 15-18.
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