Zur Übersetzung

[21] Als nach der chinesischen Revolution (von 1911) Tsingtau der Aufenthaltsort einer Reihe der bedeutendsten chinesischen Gelehrten der alten Schule wurde, lernte ich unter ihnen Lau Nai Süan kennen, der mir zum ersten Mal die Geheimnisse des Buches der Wandlungen erschloß. Gemeinsam gingen wir an die Arbeit. Er erklärte den Text auf chinesisch, und ich machte mir Notizen. Dann übersetzte ich den Text für mich ins Deutsche. Darauf übersetzte ich ohne Buch meinen deutschen Text ins Chinesische zurück, und Lau Nai Süan verglich, ob ich in allen Punkten das Richtige getroffen. Dann wurde der deutsche Text noch stilistisch gefeilt und in seinen Einzelheiten besprochen. Ich habe ihn dann noch drei- bis viermal umgearbeitet und die[21] wichtigsten Erklärungen beigefügt. So wuchs die Übersetzung heran. Sie ist – in zehnjähriger Arbeit – nach folgenden Grundsätzen vollendet worden, deren Kenntnisse die Lektüre wesentlich erleichtern dürfte:

Die Übersetzung des Textes ist so kurz und konzis wie möglich gegeben, um den archaischen Eindruck, den er auch im Chinesischen macht, zur Geltung kommen zu lassen.

Um das Eindringen in das Werk auch dem Nichtfachmann möglichst zu erleichtern, wurde zunächst im ersten Buch der Text der 64 Zeichen mit sachlicher Erklärung gegeben. Man lese zunächst diesen Teil durch auf die Gedanken hin, die darin gegeben sind, ohne sich stören zu lassen durch die Formen- und Bilderwelt. Man verfolge z.B. das Schöpferische in seinem stufenweisen Fortschritt, wie er mit Meisterhand gezeichnet ist in dem ersten Zeichen, und nehme zunächst ruhig die Drachen mit in Kauf, wie sie nun einmal dastehen. Auf diese Weise bekommt man eine Vorstellung davon, was chinesische Lebensweisheit über die verschiedenen Lebenslagen zu sagen hat.

Im zweiten Buch folgt dann die Erklärung, warum alles so ist. Es ist da das notwendigste Material zum Verständnis der Struktur der Zeichen zusammengetragen, aber nur das absolut notwendige, und soviel wie möglich wurde nur das älteste Material, wie es in den Anhängen, den sogenannten zehn Flügeln, vorhanden ist, gegeben. Diese Flügel wurden nun soweit wie möglich an den Text aufgeteilt, um eine leichtere Übersicht zu ermöglichen, nachdem ihre sachlichen Angaben auch schon im ersten Teil im Kommentar mit verwendet wurden. Wenn man also in die Tiefen des Wissens vom Buch der Wandlungen eindringen will, ist das zweite und dritte Buch und auch das dritte, das die Kommentare enthält [Große Ausgabe, 42. Tausend 1973], nicht zu entbehren. Andererseits sollte das Fassungsvermögen des europäischen Lesers nicht auf einmal mit allzuviel Ungewohntem belastet werden. Das eine kann als feste Überzeugung ausgesprochen werden, daß jedermann, der sich das Wesen des Buchs der Wandlungen wirklich zu eigen gemacht hat, dadurch bereichert wird an Erfahrung und wirklichem Lebensverständnis.

Richard Wilhelm (1923)

Fußnoten

1 Lun Yü IX, 16.
[22]

Quelle:
I Ging. Köln 141987, S. 21-23.
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