Die einzelnen Linien

[193] Anfangs eine Sechs bedeutet:

Stillehalten seiner Zehen.[193]

Kein Makel.

Fördernd ist dauernde Beharrlichkeit.


Das Ruhigbleiben der Zehen bedeutet ein Stehenbleiben, noch ehe man angefangen hat, sich zu bewegen. Der Anfang ist die Zeit, da man wenig Fehler macht. Man ist noch in Übereinstimmung mit der ursprünglichen Unschuld. Man sieht die Dinge intuitiv, wie sie sind, noch unbeeinflußt von der Verdunkelung durch Interessen und Begehrlichkeit. Wer anfangs stillesteht, solange er die Wahrheit noch nicht verlassen hat, der findet das richtige. Nur ist dauernde Festigkeit nötig, damit man nicht in ein willenloses Sichtreibenlassen hineingerät.


Sechs auf zweitem Platz bedeutet:

Stillehalten seiner Waden.

Er kann den nicht retten, dem er folgt.

Sein Herz ist nicht froh.


Das Bein kann sich nicht selbständig bewegen, sondern ist in seiner Bewegung abhängig von der Bewegung des Leibes. Wenn der Leib in starker Bewegung ist und das Bein wird plötzlich angehalten, so führt die weitergehende Bewegung des Leibes dazu, daß der Mensch fällt.

So ist es auch mit einem Menschen, der sich im Gefol ge einer stärkeren Persönlichkeit befindet. Er wird mitgerissen. Selbst wenn er auf der Bahn des Unrechts einhält, so kann er doch den andern in seiner starken Bewegung nicht mehr aufhalten. Wo der Herr vorwärts drängt, kann ihn der Diener, auch wenn er es noch so gut meint, nicht retten.


Neun auf drittem Platz bedeutet:

Stillehalten seiner Hüften.

Steifmachen seines Kreuzbeins.

Gefährlich. Das Herz erstickt.


Es handelt sich hier um erzwungene Ruhe. Das Herz, das in der Unruhe ist, soll gewaltsam gebändigt werden. Aber das Feuer, das gewaltsam zurückgedrängt wird, wandelt sich zu beizendem Rauch, der erstickend sich ausbreitet.

Bei Meditations- und Konzentrationsübungen darf man daher nicht gewaltsam vorgehen. Sondern die Ruhe muß sich ganz natürlich aus einem Zustand innerer Sammlung heraus entwickeln. Wenn gewaltsam durch künstliches Steifhalten die Ruhe erzwungen werden soll, so wird die Meditation zu großen Unzuträglichkeiten führen.
[194]

Sechs auf viertem Platz bedeutet:

Stillehalten seines Rumpfes.

Kein Makel.


Ruhighalten des Rückens, wie es in den Worten zum Gesamtzeichen erwähnt ist, bedeutet, daß man das Ich ver gißt. Das ist die höchste Stufe der Ruhe. Hier ist diese Stufe der Ruhe noch nicht erreicht. Man vermag es zwar schon, das Ich mit seinen Gedanken und Regungen stillezuhalten. Aber man wird doch noch nicht ganz frei davon. Immerhin ist das Stillehalten des Herzens eine wichtige Funktion, die mit der Zeit zum völligen Ausschalten der egoistischen Triebe führt. Wenn man auch noch nicht von allen Gefahren des Zweifels und der Unruhe frei bleibt, so ist dennoch diese Gemütshaltung, da sie auf dem Weg zu jener andern, höheren liegt, kein Fehler.


Sechs auf fünftem Platz bedeutet:

Stillehalten seiner Kinnladen.

Die Worte haben Ordnung.

Die Reue schwindet.


In gefährlicher Lage, namentlich solange man der Lage nicht gewachsen ist, ist man sehr leicht mit Reden und vorlauten Scherzen bei der Hand. Aber durch unvorsichtiges Reden kommt man leicht in Situationen, da man nachher manches zu bereuen hat. Allein, wenn man sich im Reden zurückhält, so bekommen die Worte immer mehr eine feste Gestalt, und dann verschwindet jeder Anlaß zur Reue.


Û Oben eine Neun bedeutet:

Großzügiges Stillehalten.

Heil!


Hier ist die Vollendung der Bemühung zur Ruhe gegeben. Man ist ruhig nicht in kleinlich abgezirkelter Weise im einzelnen, sondern eine allgemeine Resignation im ganzen gibt Ruhe und Heil für alles Einzelne.

Fußnoten

1 Vergl. Goethe:

»Sehnsucht ins Ferne, Künftige zu beschwichtigen,

Beschäftige dich hier und heut im Tüchtigen.«


Die einzelnen Linien
Quelle:
I Ging. Köln 141987, S. 193-195.
Lizenz:

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Ein Spätgeborner / Die Freiherren von Gemperlein. Zwei Erzählungen

Ein Spätgeborner / Die Freiherren von Gemperlein. Zwei Erzählungen

Die beiden »Freiherren von Gemperlein« machen reichlich komplizierte Pläne, in den Stand der Ehe zu treten und verlieben sich schließlich beide in dieselbe Frau, die zu allem Überfluss auch noch verheiratet ist. Die 1875 erschienene Künstlernovelle »Ein Spätgeborener« ist der erste Prosatext mit dem die Autorin jedenfalls eine gewisse Öffentlichkeit erreicht.

78 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon