Die einzelnen Linien

[197] Anfangs eine Sechs bedeutet:

Die Wildgans zieht allmählich dem Ufer zu.

Der junge Sohn ist in Gefahr.

Es gibt Gerede. Kein Makel.


Die einzelnen Linien haben alle den allmählichen Zug der Wildgans zum Bild. Die Wildgans ist das Symbol der ehelichen Treue. Es heißt von ihr, daß sie nach dem Tod des Gatten sich nicht mit anderen vereinigt.

Die erste Linie zeigt die erste Station auf dem Zug der Wasservögel vom Wasser zur Höhe. Das Ufer wird erreicht. Die Lage ist die eines einsamen jungen Menschen, der anfangen will, sich im Leben durchzusetzen. Weil er niemand hat, der ihm entgegenkommt, sind seine ersten Schritte langsam und zögernd, und er ist von Gefahr umgeben. Natürlich wird er vielfach kritisiert. Aber gerade die Schwierigkeiten machen, daß er sich nicht übereilt und sein Fortschritt gelingt.


Û Sechs auf zweitem Platz bedeutet:

Die Wildgans zieht allmählich dem Felsen zu.

Essen und Trinken in Frieden und Eintracht. Heil!


Der Fels ist ein sicherer Platz am Ufer. Die Entwicklung ist einen Schritt weiter. Man ist über die anfängliche Unsicherheit hinaus und hat eine gesicherte Lebensstellung gefunden, durch die man einen auskömmlichen Lebens unterhalt hat. Dieser erste Erfolg, der die Bahn der Möglichkeit des Wirkens eröffnet, gibt der Stimmung eine gewisse Fröhlichkeit, und beruhigt schreitet man der Zukunft zu.

[197] Von der Wildgans heißt es, daß sie ihre Genossen herbeiruft, wenn sie Futter findet; das ist das Bild des Friedens und der Eintracht im Glück. Man will sein Glück nicht für sich allein haben, sondern ist bereit, es mit andern zu teilen.


Neun auf drittem Platz bedeutet:

Die Wildgans zieht allmählich der Hochebene zu.

Der Mann zieht aus und kehrt nicht wieder.

Die Frau trägt ein Kind, aber bringt es nicht zur Welt.

Unheil!

Fördernd ist es, Räuber abzuwehren.


Die trockene Hochebene ist nicht für die Wildgans. Zieht sie dorthin, so hat sie ihren Weg verloren und ist zu weit gegangen. Das widerspricht dem Gesetz der Entwicklung.

So geht es auch im Menschenleben. Wenn man nicht die Dinge sich ruhig entwickeln läßt, sondern von sich aus sich voreilig in den Kampf stürzt, so bringt das Unheil. Das eigene Leben schlägt man in die Schanze, und die Familie geht darüber zugrunde. Aber das ist keineswegs notwendig, sondern nur die Folge davon, daß man das Gesetz der natürlichen Entwicklung übertritt. Wenn man nicht von sich aus den Kampf aufsucht, sondern sich darauf beschränkt, seinen Platz kraftvoll zu behaupten und unberechtigte Angriffe abzuwehren, so geht alles gut.


Sechs auf viertem Platz bedeutet:

Die Wildgans zieht allmählich dem Baume zu.

Vielleicht bekommt sie einen flachen Ast. Kein Makel.


Der Baum ist kein Platz, der für eine Wildgans geeignet ist. Aber wenn sie klug ist, findet sie einen flachen Ast, auf dem sie stehen kann. Im Leben kommt man im Lauf der Entwicklung auch oft in Situationen, die einem nicht entsprechen, in denen man sich schwer ohne Gefahr behaupten kann. Da ist es wichtig, daß man klug und nachgiebig ist. Dann kann man mitten in der Gefahr einen sicheren Platz ausfindig machen, an dem sich leben läßt.


Û Neun auf fünftem Platz bedeutet:

Die Wildgans zieht allmählich dem Gipfel zu.

Die Frau bekommt drei Jahre lang kein Kind.

Endlich kann sie nichts verhindern. Heil!


Der Gipfel ist ein hoher Platz. Auf hoher Stelle gerät man leicht in Vereinsamung. Man wird verkannt von dem, auf den man angewiesen ist: die Frau von ihrem Mann, der Beamte von seinem[198] Herrn. Die Ursache davon sind falsche Menschen, die sich dazwischen gedrängt haben. Die Folge ist, daß die Beziehungen steril bleiben und nichts geleistet wird. Aber die Entwicklung bringt es mit sich, daß solche Mißverständnisse sich lösen und die Vereinigung schließlich doch zustande kommt.


Oben eine Neun bedeutet:

Die Wildgans zieht allmählich den Wolkenhöhen zu.

Ihre Federn können zum heiligen Tanz verwendet werden.

Heil!


Hier ist das Leben abgeschlossen. Das Werk liegt vollendet da. Hoch erhebt sich seine Bahn in den Himmel, wie der Flug der Wildgänse, wenn sie jeden irdischen Boden verlassen haben. Da fliegen sie hin und halten die Ordnung ihres Fluges ein, Figuren strenger Linien bildend.

Und wenn ihre Federn herunterfallen, so können sie zum Schmuck bei den heiligen Tempeltanzpantomimen verwendet werden.

So ist das Leben eines vollendeten Menschen ein helles Licht für die Menschen der Erde, die zu ihm als Vorbild aufsehen.


Die einzelnen Linien
Quelle:
I Ging. Köln 141987, S. 197-199.
Lizenz:

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