Kapitel X

Der vierfache Gebrauch des Buchs der Wandlungen

§ 1

[290] Das Buch der Wandlungen enthält einen vierfachen SINN der Heiligen und Weisen. Beim Reden richte man sich nach seinen Urteilen, beim Handeln richte man sich nach seinen Veränderungen, bei Anfertigung von Gegenständen richte man sich nach seinen Bildern, beim Orakelholen richte man sich nach seinen Auskünften.


§ 2

Darum befragt der Edle es, wenn er etwas zu machen oder zu tun hat, und zwar mit Worten. Jenes nimmt seine Mitteilungen auf wie ein Echo, es gibt nichts[290] Fernes und Nahes, nichts Dunkles und Tiefes für dasselbe: so erfährt er die künftigen Dinge. Wenn dieses Buch nicht das allergeistigste auf Erden wäre, wie könnte es so etwas?


Hier wird die Psychologie des Orakels gezeichnet. Der Orakelsuchende formuliert sein Anliegen genau in Wor ten und empfängt dann wie ein Echo ohne Rücksicht, ob es sich um Nahes oder Fernes, Geheimes oder Tiefes handelt, das passende Orakel, durch das er in den Stand gesetzt wird, die Zukunft zu erkennen. Es ist dabei gedacht, daß Bewußtes und Überbewußtes miteinander in Beziehung treten. Das Bewußte geht bis zur Formulierung. Beim Teilen der Stäbchen tritt das Unbewußte ein, und aus dieser Teilung ergibt sich dann, wenn man das Resultat mit dem Text des Buchs vergleicht, das Orakel.


§ 3

Es werden die drei und fünf Verrichtungen vorgenommen, um eine Veränderung zu erreichen. Es werden Teilungen und Vereinigungen der Zahl vorgenommen. Wenn man die Änderungen durchläuft, so vollenden sie die Formen von Himmel und Erde. Steigert man ihre Zahl aufs äußerste, so bestimmen sie alle Bilder auf Erden. Wenn das nicht das Allerveränderlichste auf Erden wäre, wie könnte es so etwas?


Es ist viel über die Drei- und Fünfteilung gesprochen worden, und selbst Dschu Hi ist der Meinung, daß der Passus heute nicht mehr verständlich sei. Aber man darf nur Kapitel IX, § 3 zugrunde legen, zu dem wir hier eine nähere Ausführung haben, um einen Zusammenhang in den Text zu bringen. Die drei »Verrichtungen« sind die Teilung in zwei Haufen und das Besondersstecken eines Stengels, »um die drei Mächte nachzubilden«. Darauf werden die beiden Haufen je mit vier durchgezählt, »weil in fünf Jahren zwei Schaltmonate sind«, damit erhält man 3 + 2 = 5 Verrichtungen, die eine Veränderung ergeben. So fährt man mit Teilungen und Vereinigung fort, bis man »die Formen von Himmel und Erde vollendet«, d.h. zunächst eines der acht Zeichen, d.h. eine »Kleine Vollendung« (vgl. Kap. IX, § 7) erlangt. Man fährt dann fort, bis man den obersten, sechsten Strich erreicht hat und dadurch ein vollständiges Bild erhält, das sich jeweils aus zwei Urzeichen zusammensetzt.


§ 4

Die Wandlungen haben kein Bewußtsein, keine Handlung, stille sind sie und bewegen sich nicht. Werden[291] sie aber angeregt, so durchdringen sie alle Verhältnisse unter dem Himmel. Wenn sie nicht das Allergöttlichste auf Erden wären, wie könnten sie so etwas?


Hier ist deutlich ausgesprochen, was in den Bemerkungen zu § 2 ausgeführt wurde.

Bemerkung: Die Verhältnisse des Buchs der Wandlungen können am besten verglichen werden mit dem Netzwerk einer elektrischen Leitung, die alle Verhältnisse durchdringt. Sie hat nur die Möglichkeit des Erleuchtens, aber leuchtet nicht. Indem dann durch den Fragenden der Kontakt mit einer bestimmten Situation hergestellt ist, wird der Strom erregt und die betreffende Situation erleuchtet. Ohne daß in einem der Kommentare dieses Bild gebraucht wäre, läßt sich dadurch mit wenigen Worten alles erläutern, was im Text gemeint ist.


§ 5

Die Wandlungen sind es, wodurch die Heiligen und Weisen alle Tiefen erreicht und alle Keime erfaßt haben.


§ 6

Nur durch das Tiefe kann man alle Willen auf Erden durchdringen. Nur durch die Keime kann man alle Sachen auf Erden vollenden. Nur durch das Göttliche kann man ohne Hast eilen und, ohne zu gehen, ans Ziel kommen.


Hier wird gezeigt, wie dadurch, daß das Buch der Wandlungen in die unterbewußten Gebiete hinabreicht, sowohl der Raum als die Zeit ausgeschaltet werden. Der Raum als Prinzip der Mannigfaltigkeit und Verwirrung wird überwunden durch die Tiefe, das Einfache; die Zeit als Prinzip der Ungewißheit wird überwunden durch das Leichte, Keimhafte.


§ 7

Wenn der Meister sprach: »Das Buch der Wandlungen enthält einen vierfachen SINN der Heiligen und Weisen«, so ist das damit gemeint.


Es ist wohl anzunehmen, daß in § 1 ein Wort von Kungtse zugrunde liegt, das dann rhetorisch ausgeführt und hier nochmals zusammenfassend erwähnt ist.

Quelle:
I Ging. Köln 141987, S. 290-292.
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