3. Musik und Sitte - Yüo Li

[77] Die Könige schufen Musik, wenn sie ihre Werke vollendet hatten. Sie machten die Sitte, wenn sie ihre Ordnungen befestigt hatten. Die Größe des Werkes war maßgebend für die Vollkommenheit der Musik. Die Weisheit der Ordnung war maßgebend für die Zahl der Sitten. Nicht die Pantomimen mit Schildern und Schwertern sind die Vollkommenheit der Musik. Nicht die Opfer und Gaben sind die Wirksamkeit der Sitte.

Die fünf Herrscher lebten zu verschiedenen Zeiten und ahmten die Musik voneinander nicht nach. Die drei Könige lebten in verschiedenen Geschlechtern und schauten einander ihre Sitten nicht ab. Wird die Freude der Musik übersteigert, so führt sie zur Trauer. Wird die Zahl der Sitten übertrieben, so führt sie zur Einseitigkeit. Höchste Musik ohne Trauer, vollkommenste Sitte ohne Einseitigkeit vermag nur ein großer Heiliger zu schaffen.

Der Himmel ist hoch, und die Erde ist niedrig, und alle Dinge sind dazwischen mit ihren Unterschieden ausgestreut. Daraus entspringt die Gestaltung der Sitte. Ihre Kräfte fließen unaufhörlich. Das Getrennte wird zusammengebracht und vereinigt und so verwandelt. Daraus entspringt die Schöpfung der Musik. Der Frühling schafft, der Sommer läßt wachsen: das ist die Liebe. Der Herbst sammelt, der Winter birgt in den Scheunen: das ist die Gerechtigkeit. Die Liebe entspricht der Musik, die Gerechtigkeit entspricht der Sitte.

Die Musik führt zur Harmonie, sie erhebt zu den Göttern und folgt dem Himmel. Die Sitte scheidet das Geziemende,[77] sie weilt bei den Geistern und folgt der Erde. Darum schafft der Heilige Musik, um dem Himmel zu entsprechen. Er ordnet die Sitte, um es der Erde gleichzutun. Durch Klarheit der Sitte und der Musik werden die Wirkungen von Himmel und Erde vervollkommnet.

Der Himmel ist hoch, die Erde ist niedrig; danach wird die Stellung von Fürst und Diener bestimmt. Tiefen und Höhen sind ausgebreitet; danach bemessen sich die Stellungen von vornehm und gering. Bewegung und Ruhe haben feste Regeln; danach unterscheidet sich das Kleine von dem Großen.

Die Räume erfüllen sich durch das Gleichgeartete, die Dinge trennen sich nach Klassen; hier zeigt sich der Unterschied zwischen Wesen und Bestimmung4. Im Himmel vollenden sich die Ideen (Bilder), auf Erden vollenden sich die Gestalten. So ist die Sitte das Unterscheidende in Himmel und Erde.

Die Kraft der Erde strömt nach oben, die Kraft des Himmels senkt sich nach unten. Das Schattige und das Lichte beeinflussen einander; Himmel und Erde strömen ineinander über; anregend wirkt die elektrische Kraft (Donner); aufregend wirken Wind und Regen; bewegend wirken die Jahreszeiten; erwärmend wirken Sonne und Mond, und es gedeihen alle Verwandlungen. So ist die Musik das harmonisch Vereinigende von Himmel und Erde.

Wenn die Verschmelzungen nicht mit der Zeit übereinstimmen, so erfolgt keine Geburt. Wenn die Geschlechter nicht unterschieden werden, so entstehen Verwirrungen. Das ist das Wesen von Himmel und Erde.

Musik und Sitte reichen empor bis zu den Himmelshöhen und umwinden die Tiefen der Erde. Sie wirken im Schattigen und Lichten und stehen in Verbindung mit Geistern und Göttern. Sie reichen empor bis zu den weitesten Fernen und senken sich hinab bis zu den tiefsten Schichten.

Die Musik erscheint am großen Anfang, und die Sitte verweilt da, wo die Dinge sich vollenden. Entfaltung der ruhelosen Bewegung ist die Wirkung des Himmels. Entfaltung der bewegungslosen Ruhe ist die Wirkung der Erde. Der Wechsel zwischen Bewegung und Ruhe ist daher allen Dingen zwischen Himmel und Erde eigen. Darum spricht der Heilige hier von Sitte und Musik.

4

Das Wesen (Sing) ist das allen Menschen gemeinsame Geistige. Die Bestimmung (Ming) formt die besondere Umwelt des Individuums.

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 77-78.
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