3. Die Güte in ihrer Verwirklichung
Anforderungen an sich selbst, nicht an andere

[185] Der Meister hat gesagt: »Die menschliche Güte hat ihre verschiedenen Grade, die Gerechtigkeit hat längere oder kürzere, größere oder kleinere Aufgaben. Die Güte, die im innersten Herzen Mitleid hat, ist eine Güte aus Menschenliebe. Die, die sich an das Gesetz hält und sich Mühe gibt, ist eine Güte niedrigerer Art ...«

Der Meister sprach: »Die Güte gleicht einem schweren Gerät, das man auf einem weiten Wege zu tragen hat. Wer es aufheben will, scheint nicht die Kraft zu haben; wer den Weg gehen will, scheint nicht ans Ziel zu kommen. Wer vieles auf sich nimmt, hat wirkliche Güte. Wer sich in der Güte anstrengen muß, dem fällt es wahrlich schwer. Wenn man die höchste Gerechtigkeit als Maßstab an die Menschen anlegt, so wird man schwerlich einen Menschen finden (der diesem Maßstab entspricht); wenn man die Menschen an den Menschen mißt, so kann man die Tüchtigen unter ihnen erkennen.«

Der Meister sprach: »Im innersten Herzen in der Güte ruhen, das kommt auf Erden äußerst selten vor ... Wer das erreichen will, der muß sich auf den Weg machen und wandern, ob er auch auf halbem Wege zusammenbricht. Er vergißt sein Alter und kümmert sich nicht darum, ob seiner Jahre Zahl ausreicht (um das Ziel zu erreichen). Den Blick aufs Ziel gerichtet, gibt er sich täglich alle Mühe, und erst im Tode hört er auf.«

Der Meister sprach: »Die Güte ist von jeher schwer zu vollenden gewesen. Die Menschen haben alle Fehler in ihren Neigungen[185] (so auch der Gütige), aber die Fehler, die ein gütiger Mensch macht, sind leicht zu entschuldigen.«

Der Meister sprach: »Ehrfurcht führt zur Sitte, Einfachheit führt zur Güte, das Wesen führt zur Wirklichkeit2. Wenn man diese Wege in Sorgfalt und Bescheidenheit geht, so mag man wohl Fehler machen, aber keine schweren. Die Ehrfurcht verringert die Fehler, die Wirklichkeit (des Wesens) findet Vertrauen, die Einfachheit macht die Duldsamkeit leicht. Wenn dabei auch noch Fehler vorkommen, so doch sicher nur wenige ...«

Der Meister sprach: »Die Güte ist von jeher schwer zu vollenden gewesen. Nur der Edle kann das. Aber der Edle wird nicht durch das, was er kann, die anderen Menschen beschweren. Er wird nicht durch das, was die Menschen nicht können, sie beschämen. Darum wird der Heilige, wenn er den Wandel der Menschen ordnet, nicht sich selbst als Maßstab nehmen, damit die Leute (ein Ziel vor sich haben, das nicht zu hoch ist, damit sie) sich Mühe geben, es zu erreichen, und aus Ehrgefühl seine Worte befolgen. Er gibt ihnen die Sitte, um sie zu regeln, das Vertrauen, um sie zu festigen, er schreibt ein richtiges Verhalten vor, damit sie in Form kommen, er ordnet die Kleidung (nach ihren Verdiensten), um sie zum Fortschritt zu bewegen, er läßt sie in Freundschaft miteinander verkehren, um sie zu fördern, – immer nur darauf bedacht, daß die Leute das Eine erreichen, wie es in den kleinen Festliedern heißt, daß sie sich nicht vor Menschen zu schämen und nicht vor dem Himmel zu fürchten brauchen. Denn wenn der Edle die rechte Kleidung trägt, so wird er durch ein entsprechendes edles Benehmen sie verschönern. Wenn er dies Benehmen hat, so wird er es durch entsprechende edle Reden verschönern. Wenn er solche Reden führt, so wird er sie durch eine entsprechende edle Geistesart bestätigen. Denn der Edle schämt sich, eine Kleidung zu tragen ohne das entsprechende Benehmen; er schämt sich, ein Benehmen zu zeigen ohne die entsprechenden Reden; er schämt sich, Reden zu führen ohne die entsprechende Geistesart; er schämt sich, eine Geistesart zu hegen ohne den entsprechenden Wandel. Wenn daher der Edle in Trauerkleidern ist, so sieht er betrübt aus; wenn er in Hofkleidung ist, so sieht er feierlich aus; wenn er in Kriegerkleidung[186] ist, so sieht er aus wie einer, der nicht mit sich spaßen läßt ...«

2

Sing Gin Tsing. Hier sind die beiden Ausdrücke Sing (Natur, Wesen) und Tsing (Gefühl, Wirklichkeit) in einem anderen als dem gewöhnlichen Sinne zu verstehen, nämlich was aus dem eigentlichen Wesen hervorkommt, besitzt die Kraft, sich in die Wirklichkeit umzusetzen.

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 185-187.
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