Sechstes Kapitel

[11] Man muss also die scheinbaren Schlüsse und Widerlegungen entweder so, wie hier geschehen, eintheilen,[11] oder alle auf die Unwissenheit dessen, was eine wahre Widerlegung ist, zurückführen und in dieser Weise beginnen; denn alle diese besprochenen Arten von Widerlegungen lassen sich auf den Begriff der Widerlegung zurückbringen. Erstens kann dies geschehen, wenn sie nicht richtig schliessen, weil der Schlusssatz aus den aufgestellten Vordersätzen folgen muss, und zwar mit Nothwendigkeit und nicht blos scheinbar. Dann kann die Zurückführung auch in Bezug auf die einzelnen Bestimmungen geschehen, welche in dem Begriffe der Widerlegung enthalten sind. Von denen, die auf der Ausdrucksweise beruhen, stützt sich ein Theil auf das Doppelsinnige, z.B. auf die Gleichnamigkeit, oder auf einen zweideutigen Satz, oder auf die gleiche Beziehungsform (denn man ist gewöhnt, dies alles wie ein Dieses zu nehmen), dagegen beruhen die Widerlegungen vermittelst der Verbindung, oder der Trennung der Worte, oder mittelst der Betonung darauf, dass die Rede nicht denselben Sinn beibehält, oder dass das Wort nicht gleich betont wird; obgleich dies ebenso hätte geschehen sollen, wie ja auch die Sache dieselbe bleiben muss, wenn eine Widerlegung oder ein Schluss zu Stande kommen soll. Ist z.B. ein Satz für den Umwurf zugestanden, so darf der Schlusssatz nicht auf den Mantel, sondern muss auf den Umwurf lauten; da zwar auch der Satz für den Mantel wahr ist, aber der Schluss nicht dahin führt; vielmehr bedarf es dann auch einer Frage, dass er dasselbe im Umwurf bedeute, wenn nach dem Grunde dafür gefragt wird.

Die auf das Nebensächliche gestützten Widerlegungen erkennt man ebenfalls durch die Definition des Schlusses; denn auch die Widerlegung muss so definirt werden mit der Ausnahme, dass sie auf das Entgegengesetzte lauten muss, da die Widerlegung ein Schluss auf das Entgegengesetzte ist; kann also von dem Nebensächlichen kein Schluss auf den Gegenstand selbst abgeleitet werden, so kann dies auch mit keiner Widerlegung geschehen. Denn wenn, sofern jene Bestimmungen sind, nothwendig dieses sein muss, und dieses zufällig weiss von Farbe ist, so folgt dies »Weiss« nicht nothwendig aus dem Schlusse. Auch wenn die Winkel des Dreiecks zweien rechten gleich sind und dem Dreieck nebenbei zukommt, dass es eine[12] Figur, oder das Erste, oder das Grundlegende ist, so folgt keineswegs aus diesem Schlusse, dass das Dreieck eine Figur oder das Erste oder das Grundlegende ist, denn der Beweis stützt sich nicht darauf, dass das Dreieck eine Gestalt, oder das Erste ist, sondern darauf, dass es ein Dreieck ist. Aehnliches gilt für andere solche Fälle. Ist also die Widerlegung ein Schluss, so wird die auf das Nebensächliche gestützte Widerlegung keine gültige Widerlegung sein. Auf diese Weise werden auch die Handwerker und überhaupt die Sachverständigen von den der Sache Unkundigen widerlegt, indem sie ihre Schlüsse gegen die Kundigen auf Nebensächliches stützen. Wenn diese nun dies nicht unterscheiden können, so geben sie es entweder auf Befragen zu, oder werden auch, wenn sie dies nicht thun, als widerlegt angesehen.

Die Widerlegungen, welche sich fälschlich auf das Beziehungsweise und überhaupt Gültige stützen, sind daran erkenntlich, dass die Bejahung und Verneinung nicht denselben Gegenstand betrifft. Denn von dem nur irgendwie Weissen ist die Verneinung das irgendwie-nicht-Weisse, und von dem Weiss überhaupt das nicht-Weiss überhaupt. Wenn also der Fragende das Zugeständniss, dass der Gegenstand irgendwie weiss sei, als ein solches nimmt, was das Weiss überhaupt zugesteht, so macht er zwar keine Widerlegung, aber erreicht den Schein einer solchen, weil der Gegner nicht weiss, was eine Widerlegung ist.

Am leichtesten erkennbar sind die, welche schon früher als die gegen den Begriff der Widerlegung verstossenden aufgeführt worden; deshalb haben sie auch diesen Namen erhalten; denn der Schein der Widerlegung wird hier dadurch erreicht, dass etwas in deren begründenden Sätzen weggelassen wird, und wer so die Eintheilung der Widerlegungen machen will, der muss allen solchen Widerlegungen die gemeinsame Bezeichnung »der Weglassung von Etwas bei der Begründung« geben.

Die Widerlegungen, welche das zu Beweisende als bewiesen benutzen, und die, welche einen Nicht-Grund als einen Grund aufnehmen, offenbaren sich durch den Begriff des Schlusses als falsch; denn der Schlusssatz muss sich dadurch ergeben, dass gerade diese Vordersätze den Grund dafür bilden, was bei den aus einem Nicht-Grund abgeleiteten Schlusssätzen nicht der Fall ist. Ebenso darf[13] der Schlusssatz sich nicht auf den im Anfange aufgestellten und erst zu beweisenden Satz stützen, welches die nicht innehalten, welche sich auf eine solche Benutzung des erst zu beweisenden Satzes stützen.

Die auf das Mitfolgende sich stützenden Widerlegungen bilden einen Theil der das Nebensächliche benutzenden, denn das Mitfolgende ist ein Nebensächliches und unterscheidet sich von dem eigentlichen Nebensächlichen nur dadurch, dass letzteres blos für einen Gegenstand benutzt werden kann; z.B. bei dem Satze, dass das Gelbe und der Honig, oder das Weisse und der Schwan dasselbe seien, während das Mitfolgende immer für Mehreres benutzt werden kann. Die in einer einzelnen Bestimmung einander Gleichen werden dabei als solche behandelt, die sich auch selbst einander gleich sind, und dadurch vollzieht sich die auf das Mitfolgende gestützte Widerlegung. Sie ist aber nicht in allen Fällen eine wahre; z.B. wenn das Weisse bei einem Gegenstande nur ein Nebensächliches ist; denn der Schnee z.B. und der Schwan sind im Weiss einander gleich. Ebenso wenn man, wie in der Begründung des Melissos, dass das »Geworden-sein« und das »einen Anfang-haben« ein und dasselbe sei; oder wenn man das einander Gleich-Gewordene auch als dieselbe Grösse habend annimmt. Denn Melissos folgert, dass, weil das Gewordene einen Anfang habe, auch das, was einen Anfang habe, geworden sei; als wenn beides, das »einen Anfang- Haben«, das »Gewordene« und das »Begrenzte«, dasselbe sei. Ebenso geschieht es bei dem Gleich-Gewordenen; weil Dinge, welche dieselbe und eine Grösse annehmen, einander gleich werden, so soll auch das Gleich-Gewordene dieselbe Grösse haben. Es wird also hier das Mitfolgende zum Schlusse benutzt. Da nun die auf das Nebensächliche sich stützende Widerlegung in der Unkenntniss der wahren Widerlegung besteht, so erhellt, dass dies auch für die auf das Mitfolgende sich stützende gilt. Es ist dies auch noch anderwärts zu beachten.

Die Widerlegungen, wo mehrere Fragen in eine gezogen worden sind, beruhen darauf, dass man den Begriff des Vordersatzes nicht zergliedert und sondert; denn ein Vordersatz sagt Eines von Einem aus; denn dieselbe Definition gilt sowohl für das Einzelne, wie für den Gegenstand[14] überhaupt; so gilt die des Menschen überhaupt auch für den einzelnen Menschen, und dasselbe findet auch für andere Gegenstände statt. Wenn nun der einzelne Vordersatz derjenige ist, welcher Eines von Einem aussagt, so wird eine gleich gefasste Frage auch überhaupt einen Vordersatz abgeben. Nun geht der Schluss aus Vordersätzen hervor, und die Widerlegung ist ein Schluss, also muss auch die Widerlegung aus Vordersätzen hervorgehen. Ist nun der Vordersatz die Aussage Eines von Einem, so erhellt, dass auch diese Art der Widerlegung in einer Unkenntniss der wahren Widerlegung besteht, denn der Vordersatz scheint nur ein solcher zu sein, ist es aber nicht wirklich. Hat also der Gefragte die Antwort auf die Frage so, als wäre sie eine, gegeben, so kommt die Widerlegung wirklich zu Stande; hat er aber nicht geantwortet und dadurch scheinbar zugestimmt, so ist auch die Widerlegung eine scheinbare.

Somit fallen alle Gesichtspunkte unter die Unkenntniss der wahren Widerlegung, und zwar weil bei denen, welche auf der Ausdrucksweise beruhen, der Gegensatz, in welchem das Eigenthümliche der Widerlegung besteht, nur ein scheinbarer ist und weil die übrigen den Begriff des Schlusses nicht einhalten.

Quelle:
Aristoteles: Sophistische Widerlegungen. Heidelberg 1883, S. 11-15.
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