Fünftes Capitel

[12] Alle aber nehmen Gegensätze als Anfänge an; sowohl die da sagen, daß Eines das All und unbeweglich sei (denn Parmenides macht Warmes und Kaltes zu Anfängen; dieses nennt er aber Feuer und Erde), als die Dünnes und Dichtes, und Demokrit, der das Undurchdringliche und Leere nennt. Von diesen sagt er, daß das eine als seiendes, das andere als nichtseiendes sei. Auch in Lage, Gestalt und Ordnung nimmt er Gegensätze an, nämlich folgendergestalt. In der Lage, als oben und unten, vorn und hinten. In der Gestalt: eckig und winkellos, gerade und krumm. Daß nun Gegensätze irgendwie Alle zu Anfängen machen, ist klar. Und dieß mit gutem Grunde. Denn die Anfänge dürfen weder aus einander entstehen, noch aus anderem. Aus ihnen ist ja alles. Den ersten Gegensätzen aber kommt dieß zu, indem sie die ersten sind, nicht aus anderem, und indem sie Gegensätze, nicht aus einander zu entstehn. Doch muß dieß noch begriffmäßig betrachtet werden, wie es zugeht.

Voraussetzen müssen wir zuvörderst, daß von allem was ist, wesentlich nichts weder wirkt, noch auch leidet jedes beliebige von jedem beliebigen; noch jedwedes aus jedwedem entstehet: man müßte denn annehmen, nebenbei. Denn wie sollte das Weiße aus dem Musikalischen entstehen, wenn nicht etwa nebenbei an das an das Weiße oder das Schwarze das Musikalische sich knüpft? Sondern Weißes entsteht aus Nichtweißem, und nicht aus jedem solchen, sondern Schwarzem oder dem, was in der Mitte liegt; und Musikalisches aus Nichtmusikalischem, doch nicht aus allem, sondern aus Unmusikalischem und wenn etwa zwischen ihnen ein mittleres ist. Auch kein Uebergang findet in das erste beste statt; so geht das Weiße, nicht in das Musikalische über, außer vielleicht nebenbei, sondern in das Nichtweiße; und in das Nichtweiße nicht, in welches[13] es sich trifft, sondern in das Schwarze, oder das Mittlere. Eben so auch das Musikalische in das Nichtmusikalische, und dieß nicht wie es sich trifft, sondern in das Unmusikalische oder wenn etwas zwischen ihnen in der Mitte ist. Gleicherweise findet dieß Statt auch bei dem andern. Denn auch die Dinge, die nicht einfach, sondern zusammengesetzt sind, verhalten sich nach demselben Gesetz, obgleich, weil hier die entgegengesetzten Zustände nicht benannt sind, dieser Hergang unbemerkt bleibt. Denn nothwendig muß alles Geordnete aus Ungeordnetem entstehen, und daß Ungeordnete aus Geordnetem. Und seinen Untergang hat das Geordnete in einer Unordnung, und dieß nicht in jedweder, sondern in der ihm entgegenstehenden. Es ist aber kein Unterschied, Ordnung zu sagen, oder Fügung, oder Zusammensetzung; denn offenbar ist der Begriff derselbe. Gewiß doch entstehet das Haus, und die Bildsäule, und jedes andere dieser Art auf gleiche Weise. Denn das Haus entsteht, indem dieß und jenes, so und so, nicht verbunden ist, sondern zerstreut liegt. Und die Bildsäule, und was gestaltet ist, aus Gestaltlosigkeit. Und jedes von diesen ist theils eine Fügung, theils eine Zusammensetzung. Wenn also dieß wahr ist, so möchte wohl alles Entstehende entstehen und alles Vergehende vergehen, aus Gegensätzen oder in Gegensätze, und was zwischen diesen in der Mitte ist. Das Mittlere aber ist aus den Gegensätzen; so die Farben aus Weiß und Schwarz. Somit wäre denn alles von Natur Entstandene entweder Gegensatz oder aus Gegensätzen Bestehendes.

Bis hierher nun begleiten uns ziemlich die Meisten auch der Andern, wie wir bereits vorhin sagten. Denn alle setzen die Grundwesen und die von ihnen so genannten Anfänge, zwar ohne ihren Begriff, aber doch als Gegensätze, gleich als würden sie von der Wahrheit selbst dazu gezwungen. Sie unterscheiden sich von einander,[14] indem die einen höhere, die andern niedere zum Grunde legen, die einen verständlichere nach dem Begriff, die andern nach den Sinnen. Denn Einige setzten Warmes und Kaltes, Andere Nasses und Trocknes, wieder Einige Ungerades und Gerades, Andere Feindschaft und Freundschaft als Ursachen des Werdens. Dieß aber unterscheidet sich von einander auf die angegebene Weise. So daß sie sowohl dasselbige sagen auf gewisse Weise, als auch Verschiedenes von einander. Verschiedenes, wie es auch den Meisten so vorkommt; dasselbige aber, wiefern Entsprechendes; denn sie nehmen aus derselben Reihe. Einige von den Gegensätzen enthalten die andern; andere sind in jenen enthalten. Solchergestalt sprechen sie dann übereinstimmend und abweichend; schlechter und besser; Einige verständlicher nach dem Begriffe, wie vorhin gesagt, Andere nach den Sinnen. Das Allgemeine nämlich ist nach dem Begriff verständlich, das Besondere aber, nach den Sinnen. Denn begriffen wird das Allgemeine, empfunden das Theilwesen. So ist das Große und Kleine ein nach dem Begriffe gewählter Gegensatz; das Dünne und das Dichte nach den Sinnen. Daß also entgegengesetzt sein müssen die Anfänge, ist jetzt ersichtlich.

Quelle:
Aristoteles: Physik. Leipzig 1829, S. 12-15.
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