2. Die Buddhi.

[307] Das erste der inneren Organe ist das der Unterscheidung, der Feststellung, des Urteils und der Entschließung (adhya-vasâya)7. Es führt den Namen buddhi ›Verstand‹, doch darf die etymologische Wortbedeutung nicht, wie häufig geschehen ist, zur Übersetzung des Ausdrucks gebraucht werden, da wir uns unter ›Verstand‹ ein geistiges Vermögen vorstellen und die Buddhi ein physischer Bestandteil des Organismus ist. Sehr häufig findet sich in unseren Texten anstatt buddhi die Bezeichnung mahat ›das große‹ (nämlich Prinzip, tattva) oder masc. mahân ›der Große‹8.[307] Diese Benennung gründet sich auf die hervorragende Stellung, welche die Buddhi im Kreise der Organe einnimmt. Zwar ist die Wirksamkeit aller Organe auf einunddasselbe Ziel gerichtet, insofern sie sämtlich der Seele dienen; aber es besteht dabei eine förmliche Stufenleiter größerer und geringerer Bedeutung. Über den äußeren Sinnen und den Organen des Handelns steht als Oberorgan das Manas, der innere Sinn, über diesem der Ahamkâra, über dem Ahamkâra die Buddhi9. In dem Vergleich des animalischen Organismus mit dem Beamtenstaat ist die Seele der in vollständiger Passivität verharrende König und die Buddhi der alles leitende Minister. Bin solcher Vorrang kommt der Buddhi deshalb zu, weil sie, obwohl sie der Tätigkeit der übrigen Organe nicht entraten kann, in unmittelbarer Verbindung mit der Seele steht und dieser die Objekte des Erkennens und Empfindens darbietet; weil ferner die Wirksamkeit der übrigen Organe ohne das Eingreifen der Buddhi ergebnislos verlaufen würde, und weil die Buddhi der Sitz sämtlicher früheren Eindrücke, die unserm Denken und Handeln die Richtung anweisen, und damit auch des Gedächtnisses ist10. Kurz, wir haben in der Buddhi das eigentliche Werkzeug des Denkens zu sehen11, und deshalb wird sie auch hier und da mit dem in der Yoga-Philosophie[308] beliebten12 Ausdruck citta ›Denkorgan‹ benannt13. Wie die Buddhi dadurch, daß sie infolge ihres Wirkens der Seele zum Empfinden von Freude und Schmerz verhilft, die unmittelbare Veranlassung des Gebundenseins ist, so bringt sie andererseits auch die Erkenntnis des Unterschiedes zwischen Geist und Materie zu Wege und bewirkt so die Erlösung14.

Wenn auch eine unendliche Verschiedenheit hinsichtlich der Natur der einzelnen Buddhis besteht, so lassen sich doch zwei große Kategorien unterscheiden. Allgemein betrachtet, gibt es kein zweites Produkt der Materie, in dem das Sattva in so hohem Grade die beiden anderen Guṇas, insbesondere das Tamas, an Machtfülle überragt, als es in der Buddhi der Fall ist; trotzdem macht sich auch hier ein relatives Vorwalten entweder des Sattva oder des Tamas in entscheidender Weise geltend. Wenn in der Buddhi eines Individuums das Sattva so viel als möglich von der Beimischung des Tamas geläutert ist, so äußert sich dieser Zustand in Tugend, Erkenntnis, Gleichgiltigkeit gegen die Sinnenwelt und übernatürlicher Kraft. Die oft erwähnten wunderbaren Kräfte, von denen namentlich in der Yoga-Philosophie gehandelt wird, sind15 eine der Buddhi wesentliche Eigentümlichkeit, die nur durch die beiden anderen Guṇas ›verhüllt‹ wird. Wer durch erfolgreiche Ausübung der Yoga-Praxis die übernatürlichen Kräfte erlangt, gewinnt[309] also nach dieser Anschauung keinen neuen Besitz, sondern räumt nur die Hindernisse hinweg, die der Betätigung der einem jeden ureigenen Fähigkeiten im Wege stehen. Gelangt in der Buddhi anstatt des Sattva das Tamas zu vorwiegendem Einfluß, so äußert sich dieser in Lasterhaftigkeit sowie als Mangel der Erkenntnis, der Gleichgiltigkeit gegen die Sinnenwelt und der übernatürlichen Kraft. Es werden also an der Buddhi acht verschiedene Seiten als besonders bemerkenswert hervorgehoben, von denen vier die Natur des Sattva und vier die des Tamas verraten. Diese acht Seiten werden als Formen (rûpa), Attribute (dharma), Produkte (kârya) und Zustände (bhâva) der Buddhi bezeichnet16. Sieben von ihnen, vor allem Tugend und Lasterhaftigkeit (oder Verdienst und Schuld, dharmâdharmau) verstricken die Seele in das Weltdasein; nur eine, die Erkenntnis, führt zur Erlösung17.

Wenn auch das Wort buddhi in der Sanskritliteratur sehr oft zur Bezeichnung verschiedener geistiger Fähigkeiten und Tätigkeiten dient, so ist doch seine Verwendung im Sinne eines bestimmten Organs ausschließlich auf das Sâmkhya-System beschränkt; wo wir das Wort in dieser Bedeutung finden, liegt eine Beeinflussung durch Sâmkhya-Lehren vor. Die Buddhi begegnet uns bereits in der Upaniṣad-Literatur da, wo wir auch sonst das Eindringen von Sâmkhya-Anschauungen feststellen konnten, d.h. in der Kaṭha, Maitrî, Śvetâśvatara, Praśna und in späteren Upaniṣads.

Dasselbe gilt, um dies gleich im Zusammenhang zu erledigen, von dem zweiten inneren Organ der Sâmkhya-Philosophie, dem Ahamkâra18. Die Erwähnung des Ahamkâra als eines speziellen Organs mit bestimmter Funktion ist ebenso ein untrügliches Zeichen dafür, daß der Verfasser[310] des betreffenden Werkes unter dem Einfluß unseres Systems gestanden hat19. Gehen wir nun zur Betrachtung dieses Organs über.

7

Kârikâ 23, Sûtra I. 64, II. 13, Sâmkhya-krama-dîpikâ Nr. 8.

8

Die übrigen Synonyma, welche die Sâmkhya-krama-dîpikâ in Nr. 16 noch anführt (manas, mati, brahmán, khyâti, prajñâ, śruti, dhṛti, prajñâna-samtati, smṛti, dhî), sind der Purâṇa-Literatur entnommen (s. Wilsons Übersetzung des Viṣṇu Purâṇa, herausgegeben von F.E. Hall, I. 30-32 Anm.). Diese fingierte Synonymik ist in letzter Instanz zum Teil gewiß aus Stellen in älteren Werken abgeleitet (wie Maitrî Up. VI. 31), wo das Wort buddhi in Aufzählungen von Begriffen neben einigen der genannten Ausdrücke steht. Über das Wort mahat bemerkt Wilson an dem eben angeführten Orte I. 33 Anm.: »The word itself suggests some relationship to the Phoenician Mot, which, like Mahat, was the first product of the mixture of spirit and matter, and the first rudiment of creation ... they agree in their place in the cosmogony, and are something alike in name.« Solche Spielereien mit einer gewissen Wortähnlichkeit, die zudem auf einem Mißverständnis beruhen, bedürfen heute keiner Widerlegung mehr.

9

Vgl. hierüber Sâmkhya-tattva-kaumudî zu Kârikâ 23: »Jeder Mensch des praktischen Lebens gebraucht [zuerst] die äußeren Sinne, dann überlegt er [mit dem inneren Sinn], dann setzt er [mit dem Aham-kâra den betreffenden Gegenstand] zu seiner eigenen Person in Beziehung: ›Ich bin dazu berufen‹, dann entscheidet er sich [mit der Buddhi]: ›Dies ist von mir zu tun‹, und darauf handelt er, wie das aus dem täglichen Leben bekannt ist.« In Wirklichkeit aber geht der Antrieb zur Tätigkeit der Sinne von der Buddhi aus, nach der sich die Sinne richten, ›wie die Bienen nach ihrem König‹ (Bhojarâja zu Yogasûtra II. 54). Siehe näheres weiter unten in § 6.

10

Sâmkhya-tattva-kaumudî zu Kârikâ 37, Sûtra I. 71, II. 40-45 (von Aniruddha irrtümlich auf das Manas bezogen), 47, Vijñ. zu II. 13, Mahâd. zu II. 39.

11

Sûtra I. 71, Vijñ. zu II. 43.

12

Vgl. Paul Markus, Die Yoga-Philosophie 28; Poul Tuxen, Yoga, an den zahlreichen Stellen s.v. citta im Index.

13

Sûtra I. 58, VI. 31, Vijñ. zu I. 64, II. 43, Mahâd. zu III. 26, 74. Da das Denken (manana) alle Funktionen der Buddhi in sich begreift, wird diese auch vereinzelt (Sûtra I. 71, II. 40) mit dem Namen des dritten Innenorgans manas bezeichnet. Ferner wird ziemlich häufig buddhi in übertragener Bedeutung zur Benennung des dreifachen Gesamt-Innenorgans (antaḥkaraṇa-sâmânya) verwendet, also der hervorragendste Teil zur Bezeichnung des Ganzen. In diesem Sinne steht auch einmal (Sûtra VI. 62) ahamkâra. Vgl. hierüber Vijñ. zu I. 64 (S. 82 meiner Übersetzung) und Hall, Rational Refutation 11 Anm.

14

Kârikâ 37, Sûtra I. 58.

15

Nach Vijñ. zu Sûtra II. 15 im Gegensatz zu Kârikâ 43.

16

Kârikâ 23, 40, 43-45, Sûtra II. 14, 15, V. 25, Sâmkhya-krama-dîpikâ Nr. 9-15; Colebrooke, Misc. Ess.2 I. 262, 263; Röer, Lecture 15, 16.

17

Kârikâ 63, Sûtra III. 73.

18

S. Jacobs Concordance unter den beiden Worten; Regnaud, Matériaux II. 91, 92, 96; Deussen, System des Vedânta 357.

19

Daß in der Chândogya Up. VII. 25. 1 ahamkâra eine ganz andere Bedeutung hat, als im Sâmkhya-System, ist schon oben S. 28 ausgeführt worden. – Merkwürdig ist die von Hall, Rational Refutation 13 Anm. zitierte Stelle aus der Nyâya-sûtra-vṛtti S. 198: ahamkâro 'ham ity abhimânaḥ, sa ca śarîrâdi-viṣayako mithyâ-jñânam ucyate; denn hier finden wir die beiden eng zusammengehörigen Ausdrücke der Sâmkhya-Schule ahamkâra und abhimâna nebeneinander; ein weiterer Beleg für die von mir S. 177 Anm. 3 behauptete Abhängigkeit der Nyâya- von der Sâmkhya-Philosophie.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 307-311.
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